Der Bundesrat hat am 30. April 2025 ein Vernehmlassungsverfahren eröffnet zur Genehmigung des Übereinkommens der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt sowie zur Genehmigung des IAO-Übereinkommens zur Änderung von Normen infolge der Anerkennung eines sicheren und gesunden Arbeitsumfelds als grundlegendes Prinzip. Die Vernehmlassung endet am 20. August 2025.

 

Die Internationale Arbeitsorganisation

Die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) wurde 1919 gegründet. Die Schweiz war einer der Gründerstaaten. Gemäss ihrer Verfassung verfolgt die IAO das Ziel, die soziale Gerechtigkeit zu fördern und die Achtung der Menschenrechte in der Arbeitswelt zu gewährleisten.

Sie unterscheidet sich insbesondere durch ihre dreigliedrige Struktur von den anderen internationalen Organisationen: Arbeitgeber, Arbeitnehmende und Regierungen sind gleichermassen vertreten und an den Arbeiten der IAO beteiligt.

Eine der ältesten und bedeutendsten Aufgaben der IAO ist die Ausarbeitung von Übereinkommen, die Mindestnormen festlegen. Diese Übereinkommen werden von Expertenkommissionen erarbeitet, die sich aus Regierungs-, Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern zusammensetzen. Sie werden danach von der Internationalen Arbeitskonferenz, der Legislative der ILO, die jedes Jahr im Juni in Genf tagt, verabschiedet. Die Übereinkommen werden durch Empfehlungen ergänzt, welche die Tragweite des Übereinkommens genauer definieren. Obwohl sie keine Rechtsverbindlichkeit haben, dienen die Empfehlungen der IAO als Interpretationshilfe und zeigen wünschenswerte Idealziele auf.

Die meisten Übereinkommen regeln Fragen im Zusammenhang mit der Arbeitswelt und enthalten zum Teil auch Bestimmungen zum Sozialschutz. Wichtigstes Übereinkommen im Bereich der sozialen Sicherheit ist das Übereinkommen Nr. 102 über die Mindestnormen der sozialen Sicherheit aus dem Jahr 1952, das die Schweiz ratifiziert hat.

2012 wurde eine eigenständige Empfehlung zur sozialen Sicherheit angenommen; die Empfehlung Nr. 202 betreffend den sozialen Basisschutz. Sie bietet den Mitgliedstaaten eine Orientierungshilfe, um Basisniveaus für Sozialschutz einzurichten und aufrechtzuerhalten sowie Strategien zur Ausweitung der Sozialen Sicherheit zu verwirklichen, die möglichst vielen Menschen schrittweise höhere Niveaus der Sozialen Sicherheit gewährleisten.

Die IAO beschäftigt sich auch mit der Umsetzung von internationalen Programmen, welche die Lebens- und Arbeitsbedingungen verbessern sollen, sowie Programmen in den Bereichen technische Unterstützung, Aus- und Weiterbildung, Bildungswesen, Forschung und Publikation.

 

Erklärungen der IAO

Erklärung über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit (1998)

Mit der „Erklärung der IAOüber grundlegende Prinzipien und Rechte  bei der Arbeit “  haben die IAO-Kernarbeitsnormen den Status von Menschenrechten erhalten und damit universelle Gültigkeit, unabhängig davon, ob Mitgliedsstaaten die Normen ratifiziert haben. Die IAO-Kernarbeitsnomen sind als Menschenrechte das Rückgrat einer menschenwürdigen Arbeitswelt.

 

Erklärung der IAO über soziale Gerechtigkeit für eine faire Globalisierung (2008)

Im Juni 2008 nahm die Konferenz auf ihrer 97. Tagung die Erklärung der IAO über soziale Gerechtigkeit für eine faire Globalisierung  an. Die Erklärung verankert „in Anlehnung an die Erklärung der IAO über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit und ihre Folgemaßnahmen“ die Einhaltung, Förderung und Verwirklichung der grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit als eines der vier gleichermaßen wichtigen strategischen Ziele der ILO. Nach der Erklärung von 2008 gibt es vier gleich wichtige strategische Ziele der Internationalen Arbeitsorganisation:

  • Förderung von Beschäftigung
  • Entwicklung und Stärkung von Maßnahmen des sozialen Schutzes
  • Förderung des sozialen Dialogs und der Dreigliedrigkeit und
  • Achtung, Förderung und Verwirklichung der grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit

 

Erklärung zum hundertjährigen Bestehen der IAO für die Zukunft der Arbeit (2019)

Die Arbeitswelt befindet sich in einem transformativen Wandel, der durch technologische Innovationen, demographische Verschiebungen, Klimawandel und Globalisierung vorangetrieben wird. Als Antwort auf diese Herausforderungen und aus Anlass des 100-jährigen Bestehens der IAO wurde 2019 auf der 108. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz die „Erklärung zum hundertjährigen Bestehen der IAO für die Zukunft der Arbeit“  verabschiedet.

  • Wirksame Realisierung der Chancengleichheit und Gleichbehandlung der Geschlechter
  • Effektives lebenslanges Lernen und qualitativ hochwertige Bildung für alle
  • Universeller Zugang zu umfassendem und nachhaltigem Sozialschutz
  • Achtung der Grundrechte
  • Angemessener, gesetzlich oder tarifvertraglich festgelegter Mindestlohn
  • Obergrenzen für die Arbeitszeit
  • Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit
  • Politikkonzepte für menschenwürdige Arbeit und Produktivitätssteigerung
  • Politikkonzepte, die einen angemessenen Schutz der Privatsphäre und personenbezogener Daten gewährleisten und den Herausforderungen und Chancen in der Arbeitswelt im Zusammenhang mit der digitalen Transformation der Arbeit, einschließlich Plattformarbeit, Rechnung tragen.

 

Vernehmlassung zu Übereinkommen Nr. 190 und Nr. 191

DieVernehmlassung folgt dem Antrag des Parlaments und beinhaltet die Ratifizierung zweier IAO-Übereinkommen: Nr. 190 über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt und Nr. 191 zur Änderung von Normen infolge der Anerkennung eines sicheren und gesunden Arbeitsumfelds als grundlegendes Prinzip. Zur Genehmigung der beiden Übereinkommens bedarf es weder der Annahme neuer noch der Anpassung bestehender Gesetze oder Verordnungen. Externe Analysen bestätigen für beide Übereinkommen, dass deren Bestimmungen in der schweizerischen Rechtsordnung nicht direkt anwendbar sind.

 

IAO-Übereinkommen Nr. 190 über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt

Das Übereinkommen Nr. 190 anerkennt das Recht jeder Person auf ein Arbeitsumfeld frei von Gewalt und Belästigung. Das Übereinkommen enthält die erste tripartite Definition von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt auf internationaler Ebene. Es sieht ein gesetzliches Verbot von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt sowie Präventionsmassnahmen und Hilfe für die Opfer vor.

Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz sind mit einer menschenwürdigen Arbeit unvereinbar und beeinträchtigen die Produktivität der Unternehmen. Durch die Ratifizierung dieses Übereinkommens würde die Schweiz ihr Engagement im Kampf gegen diesen Missstand bekräftigen und aktiv zu den gemeinsamen Bemühungen der Staaten beitragen, ein höheres Schutzniveau zu erreichen. Diese Ratifizierung steht im Einklang mit der Aussen- und Wirtschaftspolitik der Schweiz.

 

IAO-Übereinkommens Nr. 191 zur Änderung von Normen infolge der Anerkennung eines sicheren und gesunden Arbeitsumfelds als grundlegendes Prinzip

Das Übereinkommen Nr. 191 folgt der Entscheidung der Internationalen Arbeitskonferenz vom Juni 2022, ein sicheres und gesundes Arbeitsumfeld als grundlegendes Prinzip und Recht bei der Arbeit aufzunehmen. Die Schweiz hatte die Anerkennung dieses neuen grundlegenden Prinzips und Rechts unterstützt. Das Übereinkommen Nr. 191 schlägt vor, die IAO-Instrumente, die sich auf grundlegende Prinzipien beziehen, zu aktualisieren. Das Übereinkommen ist rein formeller Natur ist und hat keine wirkliche materielle Wirkung. Mit der Ratifizierung dieses Übereinkommens würde sich die Schweiz für die Kohärenz des internationalen Arbeitsrechts einsetzen.

 

Dauer der Vernehmlassung

Das Vernehmlassungsverfahren zu beiden Übereinkommen läuft bis zum 20. August 2025.

 

Autor: Nicolas Facincani 

 

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