Zur Fürsorgepflicht des Arbeitgebers gehört unter anderem, dass die zumutbaren notwendigen Massnahmen zur Verhinderung von Arbeitsunfällen ergriffen werden. Wie werden diese Massnahmen bestimmt? Das Gesetz hält fest,  dass der Arbeitgeber auf die Gesundheit des Arbeitnehmers gebührend Rücksicht zu nehmen hat. Er hat dabei zum Schutz von Leben, Gesundheit und persönlicher Integrität der Arbeitnehmer die Massnahmen zu treffen, die nach der Erfahrung notwendig, nach dem Stand der Technik anwendbar und den Verhältnissen des Betriebes angemessen sind, soweit es mit Rücksicht auf das einzelne Arbeitsverhältnis und die Natur der Arbeitsleistung ihm billigerweise zugemutet werden kann.

 

BGer 4A_611/2018 vom 5. Juni 2019

Gemäss dem in BGer 4A_611 vom 5. Juni 2019 zugrunde liegenden Sachverhalt ereignete sich das Folgende: Am 25. März 2003 ereignete sich während den Reinigungsarbeiten im Stahlwerk ein Arbeitsunfall, bei welchem ein Arbeitnehmer von einem an einem Kran hängenden Schienenstück am Oberkörper und im Gesicht getroffen wurde. Dieser machte eine Verletzung der Fürsorgepflicht geltend. Dabei wurde von folgendem Unfallhergang ausgegangen: Am Unfalltag sei während des Giessvorgangs an der Stranggussanlage flüssiger Stahl übergelaufen. Der übergelaufene Stahl habe – nachdem er erstarrt gewesen sei – mit dem Kran entfernt werden müssen. Dabei sei das sich über der Überlaufrinne befindende Schienenstück des Verteilerwagens aus der Halterung gerissen worden. Das auf dem Boden zu liegen gekommene Schienenstück sei sodann mit einer Kette am Kran festgemacht worden, um es wieder an seinen Platz zurückzubringen. Als der Kranführer das Schienenstück habe anheben wollen, habe sich das unkontrolliert gefallene Schienenstück verklemmt. Plötzlich habe es sich dann ruckartig gelöst und den Beschwerdeführer am Kopf getroffen (Erw. 3.1.1).

Die Vorinstanzen waren der Ansicht, es sei nicht ersichtlich gewesen, welche Massnahmen vom Arbeitgeber hätten ergriffen werden können, um den Unfall zu vermeiden: Es sei nicht ersichtlich, welche wirtschaftlich tragbaren Vorkehrungen die Beschwerdegegnerin hätte unternehmen können oder müssen, die den Unfall hätten verhindern können. Der Unfall habe sich bei einem Arbeitsschritt ereignet, der nicht besonders komplex gewesen sei. Die Mitarbeiter der Beschwerdegegnerin seien im Umgang mit Kranen geschult gewesen und die Richtlinien der SUVA seien ihnen bekannt gewesen. Der Beschwerdeführer sei für die Arbeit mit Kranen bestens qualifiziert gewesen. Er habe gewusst, worauf es ankomme, dass man sich nicht unter angehobenen Lasten aufhalten dürfe und sich, sobald eine Last am Kran angeschlagen sei, aus dem Gefahrenbereich zu entfernen habe. Einziger Grund für den Unfall sei gewesen, dass der Beschwerdeführer – aus welchen Gründen auch immer – im Zeitpunkt, als sich das Schienenstück aus der Verklemmung gelöst habe, im Gefahrenbereich gewesen sei. Aufgrund seines Wissens im Umgang mit Kranen und den von der Beschwerdegegnerin vorgenommenen Sicherheitsvorkehrungen, sei davon auszugehen, dass sich der Beschwerdeführer entweder grobfahrlässig nicht aus dem Gefahrenbereich begeben habe oder dass er – nachdem er den Gefahrenbereich verlassen habe – sich der verklemmten Schiene mit der Absicht, diese zu lösen, wieder genähert habe (Erw. 3.2).

 

Allgemeines zur Fürsorgepflicht

Der Arbeitgeber hat im Arbeitsverhältnis nach Art. 328 Abs. 1 OR auf die Gesundheit des Arbeitnehmers gebührend Rücksicht zu nehmen. Er hat zum Schutz von Leben, Gesundheit und persönlicher Integrität der Arbeitnehmer die Massnahmen zu treffen, die nach der Erfahrung notwendig, nach dem Stand der Technik anwendbar und den Verhältnissen des Betriebes angemessen sind, soweit es mit Rücksicht auf das einzelne Arbeitsverhältnis und die Natur der Arbeitsleistung ihm billigerweise zugemutet werden kann (Art. 328 Abs. 2 OR). So hat der Arbeitgeber etwa die erforderlichen und geeigneten Massnahmen zum Schutz vor Berufsunfällen zu treffen (BGE 132 III 257 E. 5.2 S. 259 und E. 5.4 S. 260 mit Verweis auf Art. 82 des Bundesgesetzes vom 20. März 1981 über die Unfallversicherung [UVG; SR 832.20]; Urteil 4A_189/2015 vom 6. Juli 2015 E. 3.1). Dabei sind auch alle konkreten Schutzvorschriften des Arbeits- und des Unfallversicherungsgesetzes vom Arbeitgeber einzuhalten (STREIFF/VON KAENEL/RUDOLPH, Arbeitsvertrag, 7. Aufl. 2012, N. 15 zu Art. 328 OR) (Erw. 3.2).

 

Massnahmen nach UVG zur Verhütung von Arbeitsunfällen

Gemäss Art. 83 Abs. 1 UVG erlässt der Bundesrat nach Anhören der unmittelbar beteiligten Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen Vorschriften über technische und andere Massnahmen zur Verhütung von Berufsunfällen in den Betrieben. Gestützt darauf hat der Bundesrat die Verordnung über die sichere Verwendung von Kranen vom 27. September 1999 (Kranverordnung, SR 832.312.15) erlassen. Diese Verordnung legt fest, welche Massnahmen für die Sicherheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei der Verwendung von Kranen getroffen werden müssen. Gemäss Art. 6 der Kranverordnung sind Lasten für den Hebevorgang so zu sichern, so am Kranhaken zu festigen (anzuschlagen) und nach dem Hebevorgang so abzustellen, dass sie nicht in Gefahr bringender Weise umstürzen, herabstürzen oder abrutschen können (Art. 6 Abs. 1 Kranverordnung); Lastaufnahmeeinrichtungen und Anschlagmittel müssen für den jeweiligen Transport geeignet und in betriebssicherem Zustand sein (Art. 6 Abs. 2 Kranverordnung) und Personen, die Lasten anschlagen, sind zu dieser Arbeit anzuleiten (Art. 6 Abs. 3 Kranverordnung) (Erw. 3.2.2).

 

Konkrete Schutzpflichten

Das Bundesgericht hielt fest, dass ein Arbeitgeber, um seiner Schutzpflicht nachzukommen, den Arbeitnehmer über ungewöhnliche Gefährdungen, die sich aus der Natur der Arbeit ergeben und die dem Arbeitnehmer nicht bekannt sind, sowie über die zu treffenden Massnahmen zur Risikovermeidung zu informieren und sicherzustellen, dass diese Massnahmen gewissenhaft angewendet werden. Die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers umfasse die Verhütung derjenigen Unfälle, welche nicht auf ein unvorhersehbares Verhalten bzw. auf schweres Verschulden des geschädigten Arbeitnehmers zurückzuführen sind. Der Arbeitgeber müsse folglich alles beachten, was bei normalem Lauf der Dinge und selbst bei Unaufmerksamkeit oder Unachtsamkeit des Arbeitnehmers geschehen kann (Erw. 3.2.3).

Massstab bei der Beurteilung, ob der Arbeitgeber seiner Schutzpflicht gegenüber dem Arbeitnehmer ausreichend nachgekommen sei, sei die Zumutbarkeit einer Massnahme gemessen am Gefährdungspotenzial. Sei mit kleinem Aufwand die Sicherheit zu erhöhen, so müsse der Arbeitgeber die Massnahme treffen, bei unverhältnismässig hohen Kosten kann er darauf verzichten, wenn er dafür besonders gut qualifizierte Arbeitskräfte an diesem Platz einsetzt, genau instruiert, auf die Gefahr aufmerksam macht und die Einhaltung der Anweisungen kontrolliert. Dabei seien an den Arbeitgeber bezüglich Instruktion und Kontrolle des Arbeitnehmers weniger strenge Massstäbe anzulegen, wenn Letzterer im betreffenden Beruf voll ausgebildet und erfahren sei (Erw. 3.3.4).

Vor dem Hintergrund der Gefährlichkeit der Tätigkeit ist zu beurteilen, ob es andere zumutbare Möglichkeiten (neben technischen Lösungen) gegeben hätte, um die Arbeitnehmer bei der Tätigkeit besser zu schützen. Dies beurteilt sich nach den Umständen des Einzelfalls und aufgrund des Kenntnisstands der Beschwerdegegnerin vor dem Unfall.  Es muss daher ersichtlich sein, welche Vorkehrungen der Arbeitgeber hätte unternehmen können oder müssen, die wirtschaftlich tragbar bzw. deren Kosten in einem vernünftigen Verhältnis zur Wirksamkeit stünden, die den Unfall hätten verhindern können (Erw. 3.5).

 

Autor: Nicolas Facincani