Das Bundesgericht bestätigte im Entscheid BGer 6B_572/2020 die Betrugsverurteilung eines Mannes, der eine Frau um das vereinbarte Entgelt für die von ihr erbrachten sexuellen Dienstleistungen geprellt hatte.

 

Sittenwidrige Verträge

Ausgangspunkt ist Art. 20 des Obligationenrechts. Danach ist ein Vertrag, der einen unmöglichen oder widerrechtlichen Inhalt hat oder gegen die guten Sitten verstösst, nichtig. Nach der Rechtsprechung gelten Verträge als sittenwidrig, wenn sie gegen die herrschende Moral, d.h. gegen das allgemeine Anstandsgefühl oder die der Gesamtrechtsordnung immanenten ethischen Prinzipien und Wertmassstäbe verstossen (BGE 136 III 474 E. 3; 132 III 455 E. 4.1; 129 III 604 E. 5.3; 123 III 101 E. 2; je mit Hinweisen).

Sittenwidrig können danach nur Rechtsgeschäfte mit eindeutig schwerwiegenden Verstössen gegen die öffentliche Ordnung oder anerkannte und im Wandel der Zeit beständige Moralvorstellungen sein (Urteil 4C.172/2000 vom 28. März 2001 E. 5e, in: AJP 2002, S. 464). Nach der Rechtsprechung darf der Vorbehalt der guten Sitten mithin nur als Notventil verstanden werden, um Abmachungen mit eindeutig schwerwiegenden Verstössen gegen anerkannte Moralvorstellungen die Durchsetzbarkeit zu versagen (Urteil 6B_188/2011 vom 26. Oktober 2011 E. 2.3 mit Hinweis).

Die bisherige Rechtsprechung ist von der Sittenwidrigkeit des auf die entgeltliche Erbringung sexueller Dienstleistungen gerichteten Prostitutionsvertrages ausgegangen (BGE 129 III 604 E. 5.3; 111 II 295 E. 2e; 101 Ia 473 E. 2b; 91 VI 69; Urteil 6B_188/2011 vom 26. Oktober 2011 E. 2.3). Dabei

Würde man dieser Meinung auch in strafrechtlicher Hinsicht folgen, wäre eine Verurteilung wegen Betruges ausgeschlossen, da kein gültiger Vertrag und somit keine Forderung der Prostituierten bestehen würde.

 

Strafrechtliche Beurteilung

Das Bundesgericht äusserte sich im vorliegenden Fall nicht zur Frage, ob Verträge mit Prostituierten nicht mehr sittenwidrig sein sollen. Im vorliegenden Fall BGer 6B_572/2020 wurde lediglich die Frage thematisiert, ob dem Anspruch der Prostituierten auf Entschädigung nach Erbringung ihrer Leistungen strafrechtlicher Schutz zuerkannt werden muss.

Das Bundesgericht bejahrte dies: Auszugehen sei grundsätzlich davon, dass das Erwerbseinkommen einer sich prostituierenden Person als rechtmässig anerkannt sei und in verschiedener Hinsicht rechtlich erfasst werde. So unterliege die Prostitution etwa der Einkommens- und Vermögenssteuer und der AHV. Zudem handle es sich bei der Prostitution um eine sozialübliche und zulässige Tätigkeit, deren Ausübung denn auch unter dem verfassungsrechtlichen Schutz der Wirtschaftsfreiheit stehe. Insgesamt kann der Schluss gezogen werden, dass der Dienstleistung der sich prostituierenden Person in der Rechtsordnung zumindest teilweise ein Vermögenswert beigemessen werde. Der Vertrag über die entgeltliche Erbringung von sexuellen Dienstleistungen widerspreche damit offensichtlich nicht in jeder Hinsicht den ethischen Prinzipien und Wertmassstäben, welche die Gesamtrechtsordnung beinhalte.

In Anbetracht dessen lasse es sich nicht mehr aufrechterhalten, den Vertrag zwischen der sich prostituierenden Person und ihrem Kunden uneingeschränkt als sittenwidrig zu würdigen. In Bezug auf die hier zu beurteilende Konstellation lässt sich auf jeden Fall nicht mehr sagen, dass der – von der Rechtsordnung offensichtlich nicht missbilligten – sexuellen Dienstleistung kein Vermögenswert zukomme. Das Bundesgericht hielt somit fest, der der Anspruch auf Entschädigung sei strafrechtlich zu schützen, da der Prostitutionsvertrag unter diesem Aspekt nicht mehr als sittenwidrig gelten könne.

Da auch die übrigen Voraussetzungen des Betruges gegeben waren, bestätigte das Bundegericht die Verurteilung wegen Betruges.

 

Autor: Nicolas Facincani