Am 28. November 2021 wurde die sogenannte Pflegeinitiative von Volk und Ständen angenommen und Art. 117b Bundesverfassung (BV) aufgenommen. Der neue Art. 117b BV sieht vor, dass Bund und Kantone die Pflege als wichtigen Bestandteil der Gesundheitsversorgung anerkennen und fördern und für eine ausreichende, allen zugängliche Pflege von hoher Qualität sorgen (Abs. 1). Bund und Kantone stellen zudem sicher, dass eine genügende Anzahl diplomierter Pflegefachpersonen für den zunehmenden Bedarf zur Verfügung steht und dass die in der Pflege tätigen Personen entsprechend ihrer Ausbildung und ihren Kompetenzen eingesetzt werden (Abs. 2). Bei den Übergangsbestimmungen ist in Art. 197 Ziff. 13 lit. c BV festgehalten, dass der Bund im Rahmen seiner Zuständigkeiten Ausführungsbestimmungen erlässt über „anforderungsgerechte Arbeitsbedingungen für die in der Pflege tätigen Personen“.

Im Rahmen von privatrechtlichen Arbeitsverhältnissen können Gesamtarbeitsverträge (GAV) zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der gesamten Branche beitragen. In diesem Zusammenhang könnte die Einführung einer Verpflichtung zur Aushandlung von GAV mit Personalverbänden, analog z.B. zu Art. 4 Abs. 3 lit. c des Postgesetzes (SR 783.0), Diskussionen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Pflegebereich fördern.

Am 30. September 2022 wandte sich das BAG an Prof. Kurt Paerli mit dem Anliegen, ein kurzes Rechtsgutachten zu verfassen, das die verschiedenen Fragen im Zusammenhang mit der Rechtsgrundlage und der Umsetzung einer solchen Verpflichtung zur Aushandlung eines GAV zu klären hat. Konkret soll das Rechtsgutachten zu folgenden Fragen fünf Stellung beziehen, die wie folgt beantwortet wurden. Nachfolgend werden die Zusammenfassungen der Antworten des Gutachtens wiedergegeben. Das ganze Gutachten ist hier abrufbar.

 

Bestehen Möglichkeiten zur Einführung einer Verpflichtung zur Aushandlung eines GAV auf Bundesebene im Pflegebereich? Mit welchen Argumenten könnte die mit einer solchen Pflicht einhergehende Beschränkung der Koalitionsfreiheit und ggf. weiterer Freiheiten gerechtfertigt werden?

Bereits aufgrund der heutigen Rechtslage (Koalitionsfreiheit, OR-Regelungen) besteht allgemein (also auch im Pflegebereich) ein Anspruch auf Verhandlungen eines Arbeitnehmerverbands mit einem Arbeitgeber über den Abschluss eines GAV. Wenn GAV auch im öffentlichen Personalrecht zulässig sind und sich auf Personalverbände des öffentlichen Dienstes auf die Koalitionsfreiheit berufen können, trifft dies auch auf den öffentlichen Bereich zu. Eine ausdrückliche rechtliche Verankerung einer GAV-Verhandlungspflicht ist möglich in der KVV oder im KVG. Damit wären alle Akteure adressiert, die der kantonalen Spitalplanung unterworfen wären bzw. ambulante Krankenpflege anbieten. Gestützt auf Art. 110 Abs. 1 lit. a BV in Verbindung mit Art. 197 Ziff. 13 lit. c BV könnte der Bund eine GAV-Verhandlungspflicht auch in einem eigenständigen Erlass verankern. Eine GAV-Verhandlungspflicht beschränkt die Koalitionsfreiheit nicht, denn wie dargelegt, kann die Verhandlungspflicht vielmehr gerade aus der Koalitionsfreiheit abgeleitet werden. Dazu kommt: Auf die Koalitions- und Wirtschaftsfreiheit können sich Spitäler und Pflegeinstitutionen nicht berufen, wenn sie Gegenstand der kantonalen (und bundesrechtlich vorgesehenen) Spitalplanung bilden oder ambulante Pflegeleistungen nach KVG anbieten. Die GAV-Verhandlungspflicht würde indes ohnehin nur einen geringen Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit darstellen, der durch das öffentliche Interesse gerechtfertigt und verhältnismässig wäre.

 

In welchem Gesetz bzw. auf welcher Normstufe müsste eine solche Verpflichtung verankert werden?

Es kommen hier sowohl die Gesetzes- als auch die Verordnungsstufe in Frage. Der Verfassungstext gibt die Normstufe nicht vor. Die Konkretisierung des Zusammenhangs zwischen Arbeitsbedingungen und Pflegequalität und Wirtschaftlichkeit kann auf Verordnungsstufe in der KVV realisiert werden, es kommt aber auch das KVG in Frage. Anders verhält es sich mit allfälligen Anpassungen hinsichtlich der Allgemeinverbindlicherklärung von GAV. Hier wäre eine Regelung auf Gesetzesstufe erforderlich (siehe Antwort zu 4).

 

Gäbe es Möglichkeiten, eine Verpflichtung zur Aushandlung eines GAV auf öffentlichrechtliche Arbeitsverträge auszudehnen?

Art. 110 Abs. 1 lit. a BV verleiht dem Bund umfassende Kompetenzen im Bereich des Arbeitsschutzes. Der Bundesgesetzgeber kann auf dieser Verfassungsgrundlage basierende Bestimmungen erlassen, die sowohl für private und öffentlich-rechtliche Arbeitsverhältnisse gelten. Das trifft auf das ArG zu (wobei hier die Ausnahmen für die Verwaltung von Bund, Kantonen und Gemeinden zu beachten sind) und auf das GlG zu (hier sind keine Ausnahmen vorgesehen, das Diskriminierungsverbot aufgrund des Geschlechts gilt für sämtliche Arbeitsverhältnisse ungeachtet ihrer Rechtsnatur). Die Verpflichtung zur GAV-Verhandlungspflicht kann in der KVV oder im KVG (siehe Antwort zu Frage 2) oder auch in einem „Bundesgesetz über Mindestarbeitsbedingungen in der Pflege“ verankert werden.

 

Welche rechtlichen Möglichkeiten gibt es, um (für eine Übergangszeit) die Ausweitung von Gesamtarbeitsverträgen im Pflegebereich zu erleichtern?

Das heutige Bundesgesetz über die Allgemeinverbindlicherklärung (AVEG) sieht vor, dass GAV bei Missbräuchen erleichtert allgemeinverbindlich erklärt können (Art. 1a AVEG). Diese Erleichterung wurde im Zusammenhang mit dem FZA geschaffen. Das zeigt, dass der Gesetzgeber zur Verfolgung von Zielen, die über das Arbeitsrecht hinausgehen (Schaffung von Akzeptanz für die Öffnung des Arbeitsmarktes), die Allgemeinverbindlichkeit von GAV erleichtert hat. Grundsätzlich wäre dies auch die Verwirklichung der Ziele der Pflegeinitiative denkbar.

 

Hat der Bund die Möglichkeit, den Kantonen Richtlinien für die öffentlich-rechtlichen Arbeitsverhältnisse von Pflegearbeitsverhältnissen aufzuerlegen?

Dem Bund kommt aufgrund von Art. 197 Ziff. 13 lit. c BV keine Kompetenz zu, den Kantonen für Pflegearbeitsverhältnisse Richtlinien aufzuerlegen. Wie gezeigt wurde, hat der Bund jedoch die Kompetenz, durch ein Gesetz (KVG) bzw. eine Verordnung (KVV) eine GAV-Verhandlungspflicht einzuführen und Mindestarbeitsbedingungen zu definieren. Auch kann der Bund spezifische Bestimmungen für Pflegearbeitsverhältnisse im ArG einführen. Gleiches gilt für das AVEG und auch für das OR.

 

Beschlossene Massnahmen

An seiner Sitzung vom 25. Januar 2023 hat der Bundesrat nun die Ausarbeitung eines neuen Bundesgesetzes sowie weitere Massnahmen in Auftrag gegeben, mit denen die Arbeitsbedingungen verbessert werden sollen. Damit soll insbesondere die Zahl der frühzeitigen Berufsaustritte reduziert werden.

Der Bundesrat setzt die Pflegeinitiative in zwei Etappen um. Die erste Etappe enthält eine Ausbildungsoffensive von Bund und Kantonen, für die während acht Jahren bis zu einer Milliarde Franken vorgesehen sind. Pflegefachpersonen sollen zudem bestimmte Leistungen direkt zulasten der Sozialversicherungen abrechnen können. Das entsprechende Bundesgesetz über die Förderung der Ausbildung im Bereich der Pflege wurde im Mai 2022 vom Bundesrat beschlossen und im Dezember 2022 vom Parlament verabschiedet. Damit können zentrale Forderungen der Initiative rasch umgesetzt werden.

Der Bundesrat wird bis im Sommer 2023 die Kriterien für die Ausbildungsbeiträge des Bundes formulieren und in die Vernehmlassung schicken. Das Gesetz soll voraussichtlich Mitte 2024 in Kraft treten. Ab diesem Zeitpunkt und befristet auf acht Jahre können die Kantone Bundesbeiträge beantragen. Damit die Kantone von Bundesbeiträgen profitieren können, müssen sie entsprechende gesetzliche Grundlagen schaffen.

 

Neues Gesetz über die anforderungsgerechten Arbeitsbedingungen in der Pflege

In einer zweiten Etappe will der Bundesrat nun die restlichen Elemente der neuen Verfassungsbestimmung umsetzen, insbesondere die anforderungsgerechten Arbeitsbedingungen und die besseren beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten. Der Bundesrat hat an seiner Sitzung vom 25. Januar 2023 das Departement des Innern beauftragt, bis im Frühling 2024 in Zusammenarbeit mit dem BJ und SECO ein neues Bundesgesetz über die anforderungsgerechten Arbeitsbedingungen in der Pflege zu entwerfen. Im Fokus stehen Massnahmen, um die Arbeitsbedingungen in der Pflege zu verbessern.

Im neuen Bundesgesetz werden all jene Punkte geregelt, die einheitlich für den gesamten Pflegebereich gelten sollen. Dazu gehören etwa strengere Vorgaben zur Erstellung von Dienstplänen. Häufige kurzfristige und ungeplante Arbeitseinsätze sind für Pflegende sehr belastend und werden auch häufig als Grund genannt, den Pflegeberuf zu verlassen. Um die Planbarkeit zu erhöhen, sollen Dienstpläne künftig mindestens vier statt bisher zwei Wochen im Voraus festgelegt werden. Kurzfristige Anpassungen der Dienstpläne sollen zwar weiterhin möglich bleiben. Die Arbeitgeber sollen dann aber verpflichtet werden, Lohnzuschläge zu zahlen. Je kurzfristiger der Arbeitseinsatz ist, desto höher soll der Lohnzuschlag sein.

Die Spital-, Heim- und Spitexverbände sollen zudem verpflichtet werden, für die verschiedenen Versorgungssettings (Akutspitäler, Psychiatrie, stationäre und ambulante Langzeitpflege) Empfehlungen für sogenannte Skill-Grade-Mixes auszuarbeiten. Diese bezeichnen die optimale Zusammensetzung von Pflegeteams aus Personen mit verschiedenen Kompetenzen, Erfahrungen (Skills) und Bildungsabschlüssen (Grade).

 

Massnahmen: Verhandlungspflicht für Gesamtarbeitsverträge

Für all jene Massnahmen, die spezifisch für einzelne Pflegebereiche oder Institutionen gelten, sind auch nach Annahme der Pflegeinitiative die Kantone, Betriebe und Sozialpartner zuständig. Sie kennen die Anforderungen und Verhältnisse vor Ort am besten. Der Bundesrat will die Sozialpartner als zusätzliche Massnahme aber neu dazu verpflichten, Gespräche zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen aufzunehmen und über Gesamtarbeitsverträge (GAV) zu verhandeln. Vereinbart werden könnten etwa höhere Mindestlöhne, eine Reduktion der wöchentlichen Arbeitszeiten in psychosozial besonders belastenden Arbeitssituationen, eine Stärkung der Mitwirkungsrechte bei der Organisation der Dienstplanung oder ein vom Arbeitgeber (mit-)finanziertes 24-Stunden Krippenangebot. Ob die GAV-Verhandlungspflicht neben den privatrechtlichen auch für öffentlich-rechtliche Leistungserbringer (Kantone, Gemeinden) gelten soll, lässt der Bundesrat prüfen.

Die Organisation und Koordination des Vollzugs sollen im neuen Bundesgesetz explizit geregelt werden. Zudem wird das WBF beauftragt, zu prüfen, wie der Vollzug des Arbeitsgesetzes optimiert werden kann.

Der Bundesrat will im Weiteren prüfen, ob die Organisationen der Krankenpflege und Hilfe zu Hause sowie in den Spitälern und Pflegeheimen verpflichtet werden können, entweder einen internen Personalpool zu bilden, oder eine externe Lösung über einen Personalverleih vorzusehen.

 

Autor: Nicolas Facincani

 

 

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