Verletzungen der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers bilden regelmässig die Grundlage für arbeitsrechtliche Streitigkeiten. Die Hauptpflicht des Arbeitgebers besteht zwar in der Lohnzahlungspflicht. Als Nebenpflicht hat der Arbeitgeber aber verschiedene Fürsorgepflichten.

 

Persönlichkeitsschutz

Der Arbeitnehmer ist im Rahmen der Fürsorgepflichten für den Persönlichkeitsschutz des Arbeitnehmers verantwortlich. Dabei hat er wahrend des Arbeitsverhältnisses alle zumutbaren und nötigen Vorkehrungen zu treffen (Art. 328 Abs. 1 OR).

Zum Schutzbereich der Persönlichkeit gehören.

  • Leben und Gesundheit
  • körperliche und geistige Integrität
  • persönliche und berufliche Ehre
  • Position und Ansehen im Betrieb
  • Intimsphäre
  • Freiheit der persönlichen Meinungsäußerung
  • Freiheit der gewerkschaftlichen Organisation (Koalitionsfreiheit)

Schutz von Leben und Gesundheit

Gemäß Art. 328 Abs. 2 OR muss der Arbeitgeber im betrieblichen Alltag die erforderlichen und technisch sowie finanziell zumutbaren Massnahmen treffen, damit das Leben und die Gesundheit der Arbeitnehmer keinen Schaden erleiden.

Dies hat v. a. in den folgenden Bereichen Bedeutung:

  • gefahrenfreie Arbeitsplätze
  • Sicherheitsvorkehrungen bei gefährlichen Arbeitsplatzen
  • Warnhinweise
  • Überwachung der getroffenen Massnahmen

Zusätzlich zur Bestimmung im OR sehen das Arbeitsgesetz (Art. 6, Art. 29 Abs. 3 und Art. 35 ArG) sowie das UVG (Art. 81 UVG) Arbeitsschutzbestimmungen vor.

Entscheid des Bundesgerichts 4A_217/2018 vom 2. Oktober 2018

Dem Entscheid 4A_217/2018 vom 2. Oktober 2018 lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Arbeitnehmerin verlor an ihrem Arbeitsort ihr Bewusstsein. In der Folge stürzte sie zunächst mit dem Oberkörper und Kopf auf ihren Bürotisch und sodann – nachdem ihr Bürostuhl nach hinten weggerollt war – Kopf voran unter den Tisch auf den Boden. Hierbei erlitt sie erhebliche Verletzungen im Gesicht.

Ihr stand auf ihren Hilferuf hin eine Mitarbeiterin umgehend zur Seite. Als die helfende Mitarbeiterin während des Gesprächs mit der verletzten Arbeitnehmerin festgestellt hat, dass sich deren Gesundheitszustand verschlechterte, hat sie umgehend die „Gruppe 144“ alarmiert, eine speziell für medizinische Notfälle geschulte Gruppe Mitarbeitender, die innert nur 13 Sekunden vor Ort gewesen sei und Hilfe geleistet hat.

Die Arbeitnehmerin machte für den erlittenen Schaden die Arbeitgeberin aufgrund Verletzung ihrer arbeitsvertraglichen Fürsorgepflicht verantwortlich und verlangte Schadenersatz. Sie machte insbesondere geltend, die zur Hilfe eilende Mitarbeiterin habe falsch gehandelt.

Das Bundesgericht verneinte eine Verletzung der Fürsorgepflicht.

Begründung des Bundesgerichts

Das Bundesgericht führte das Folgende aus:

„[…] Denn selbst wenn die Mitarbeiterin – wie die Beschwerdeführerin ferner geltend macht – nicht von der Gefahr eines Herzstillstandes ausgegangen sein sollte, kann ihr nicht vorgeworfen werden, dass sie die Beschwerdeführerin nicht sogleich in eine Schrägstellung legte, sondern diese kurz alleine liess, um die unternehmensinterne „Gruppe 144“ von der Zentrale am Kundendienst anzurufen, die für gesundheitliche Notfälle speziell geschult ist. So trifft es zwar zu, dass die Mitarbeiterin als Inhaberin eines Führerscheins einen Nothelferkurs absolvierte und dort lernte, eine bewusstlose Person in eine stabile Seitenlage zu bringen. Doch kann der Vorinstanz keine Bundesrechtsverletzung vorgeworfen werden, wenn sie von der Angestellten als im Übrigen medizinisch ungeschulte Person, die sich in einer unerwarteten Situation und unter hohem Druck befand, nicht verlangte, die Beschwerdeführerin in eine solche Seitenlage zu versetzen. Ohnehin verletzte die Angestellte keine Sorgfaltspflicht, wenn sie sich vielmehr dazu entschied, einen Moment von der Seite der Beschwerdeführerin zu weichen, um die unternehmensintern für solche Notfälle gebildete und entsprechend geschulte „Gruppe 144“ zu alarmieren. An der Verneinung einer Sorgfaltspflichtverletzung ändert denn auch nichts, dass die Beschwerdeführerin durch ihren Sturz erhebliche Verletzungen im Gesicht erlitt. Denn auch ohne Kenntnisse der konkreten Gefahren handelte die Mitarbeiterin korrekt, wenn sie unverzüglich die „Gruppe 144“ alarmierte und damit die Beschwerdeführerin davor bewahrte, sich weiterhin der Gefahr anderweitiger schwererer gesundheitlicher Schädigungen auszusetzen.

Schliesslich kann der Beschwerdegegnerin auch kein Vorwurf betreffend ihre generellen Sicherheitsvorkehrungen vorgeworfen werden. Es macht durchaus Sinn und ist üblich, nur einige ausgewählte Personen eines Unternehmens in medizinischer Nothilfe zu schulen; was auch von der Beschwerdeführerin nicht gerügt wird, jedenfalls nicht in genügend konkreter Weise. Die für medizinische Notfälle geschulte „Gruppe 144“ traf denn auch bereits 13 Sekunden nach deren Alarmierung ein; wobei die Beschwerdeführerin selbst weder den Zeitpunkt des Eintreffens noch die sodann geleistete medizinische Hilfe beanstandet.“

Zwar hat das Bundesgericht eine Haftung des Arbeitgebers verneint. Aus den Erwägungen des Bundesgerichts kann aber abgeleitet werden, dass ein Arbeitgeber unter Umständen gut daran tut, für Notfälle Szenarien oder verantwortliche Personen zu bestimmen und diese zu schulen (bzw. eine entsprechende Compliance sicherzustellen), um gegebenenfalls einer Haftung (Verletzung der Fürsorgepflicht) entgehen zu können.

Autor: Nicolas Facincani