Immer wieder stellt sich, vor allem im Zusammenhang mit sogenannten freien Berufen (Ärzte, Anwälte etc.) die Frage, ob eine Person angestellt ist oder nicht (siehe auch den Beitrag betreffend Uber betreffend die Qualifkationsmerkmale des Arbeitsvertrages). Gilt eine Person als Arbeitnehmer, sind die Art. 319 ff. OR anwendbar (Kündigungsfristen, Kündigungsschutz, Ferien, Lohnzahlungspflicht, Lohnfortzahlungspflicht etc.). Wie bei allen anderen Arbeitsverhältnissen ist letztlich entscheidend, ob eine Eingliederung in eine fremde Arbeitsorganisation vorliegt oder nicht.

Die Abgrenzungsschwierigkeiten sollen anhand zweier kürzlich ergangener Bundesgerichtsentscheide dargestellt werden:

 

BGer 4A_713/2016 vom 21. April 2017

Eine Ärztin war bei einer Aktiengesellschaft als Allgemeinpraktikerin angestellt. Die Praxis wurde in der Folge von einer anderen Aktiengesellschaft übernommen, wobei es sich offenbar nicht um einen Share-Deal, sondern um einen Asset-Deal handelte. Im Übernahmevertrag wurde das zu übernehmende Personal aufgeführt, wobei bei gewissen Ärzten hinter dem Namen «salarié» und bei anderen «indépendant» stand; Letzteres traf auch auf die fragliche Ärztin zu. Die fragliche Ärztin hatte zudem eine eigene Zulassungsnummer und offenbar auch mit einem medizinischen Labor selbst einen Vertrag über gewisse Dienstleistungen geschlossen, die ihr entschädigt wurden. Als die Arbeitgeberin das Verhältnis mit sofortiger Wirkung auflöste, machte die Ärztin eine ungerechtfertigte fristlose Kündigung geltend; die Arbeitgeberin stellte sich auf den Standpunkt, es liege gar kein Arbeitsverhältnis, sondern ein Auftrag vor.

 

Erwägungen des Bundesgerichts:

  • sowohl die kantonalen Instanzen wie auch das Bundesgericht folgten dieser Auffassung nicht und nahmen ein Arbeitsverhältnis an;
  • das Bundesgericht hielt ausdrücklich fest, der Umstand, dass keine Sozialabgaben auf dem Entgelt bezahlt worden seien, könne als Hinweis auf eine unabhängige Stellung angesehen werden, sei aber nicht entscheidend (E. 4.2).
  • die Bezeichung der Parteien sei nicht entscheidend (On peut donner acte à la recourante que les critères formels tels que l’intitulé d’un contrat ou les déclarations des parties ne sont pas déterminants).
  • es kommt auf die gelebte Wirklichkeit an – wer hat Weisungsrecht, wie ist die Integration.

 

BGer 4A_10/2017 vom 19. Juli 2017

Baugeschäft B. SA mit Sitz im Kanton GE wurde durch L. und A. gegründet. L. hielt 51% der Aktien, und war Präsident des Verwaltungsrates mit mit Einzelunterschrift, A. hielt 49% der Aktien, und war Verwaltungsratsmitglied mit Einzelunterschrift. A erhielt einen Lohn und Sozialversicherungsbeiträge wurden jeweils abgezogen. Am 4. Juli 2014 informierte die B. SA den A., dass dessen Aktivität als Arbeitnehmer per 31. August 2014 enden würde. Dieser hingegen klagte auf Lohn bis zum mutmasslichen gesetzl. Kündigungstermin.

 

Erwägungen des BGer: 

  • die hauptsächliche Frage ist, wann zwischen einer AG und ihren Organen ein Arbeitsverhältnis zustande komme.
  • der Arbeitsvertrag unterscheide sich von anderen Dienstleistungsverträgen (insb. Auftrag) durch Subordinationsverhältnis (E. 3.1); Der Arbeitnehmer sei der Überwachung und den Weisungen des Arbeitgebers ausgesetzt.
  • die Rechtsbeziehung zwischen jur. Person und Organen könne gesellschafts- und vertragsrechtlicher Doppelnatur sein; es gäbe die Tendenz, dass Geschäftsleitungsmittglieder-Mitglieder durch Arbeitsvertrag und VR-Mitglieder durch Auftrag oder Vertrag sui generis gebunden seien (E. 3.1).
  • für den konkreten Fall: Der Minderheitsaktionär A. sei nicht unter Weisungsgewalt des Mehrheitsaktionärs L. gestanden, d.h. er sei bei Gestaltung seiner Tätigkeit (u.a. Ferienbezug) frei gewesen, daher habe kein Arbeitsvertrag bestanden (E. 3.2). Massgebend sei in jedem Fall die gelebte Wirklichkeit, nicht der Vertragstext.
  • das Bundesgericht hielt fest, dass von einem Arbeitsvertrag keine Rede sein könne, wenn zwischen der juristischen Person und ihrem Organ wirtschaftliche Identität bestehe.

 

Weitere Beiträge zur Qualifikation von Verträgen:

 

Autor: Nicolas Facincani