Will ein Arbeitnehmer gegen den (aktuellen oder ehemaligen) Arbeitgeber gerichtlich vorgehen, weil noch eine Forderung (insb. Lohnforderung) offen ist, stellt sich oft die Frage der Bonität des Arbeitgebers. Nur wenn ein Arbeitgeber über die Mittel verfügt, um einen Arbeitnnehmer befriedigen zu können, lohnt sich die Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens.

Im Zusammenhang mit der Überprüfung eines Schuldners wird oft zuerst ein Betreibungsauszug von diesem eingeholt. Zudem ist es möglich, die Bonität bei gewissen Firmen, welche Kreditauskünfte anbieten, prüfen zu lassen. Daneben sieht aber das Obligationenrecht eine Möglichkeit vor, um direkt in die Bücher des betreffenden Schuldners Einsicht nehmen zu können. So sieht das Obligationenrecht (OR) in Art. 958e Abs. 2 OR das Recht des Gläubigers vor, in den Geschäfts- und Revisionsbericht eines Schuldners Einsicht zu nehmen. Somit besteht neben dem Einholen des Betreibungsregisterauszuges eine zusätzliche Möglichkeit, die Bonität eines Schuldners zu prüfen. Der Geschäftsbericht umfasst die Bilanz, die Erfolgsrechnung sowie den Anhang. Er gibt die finanzielle Lage per Bilanzstichtag wieder. Er stellt also im Wesentlichen auf eine vergangene Periode ab; die aktuelle Finanzsituation kann also im besser oder schlechter sein.

 

Voraussetzungen für die Einsichtnahme

Sofern eine Gesellschaft Anleihensobligationen ausstehend hat oder wenn ihre Beteiligungspapiere an einer Börse kotiert sind, sind Jahresrechnung und Konzernrechnung im Handelsamtsblatt zu veröffentlichen oder jeder Person auf deren Kosten zuzustellen (Art. 958e Abs. 1 OR). Jedermann kann somit Einsicht nehmen

Bei den übrigen Unternehmen müssen den Gläubigern – so auch den Arbeitnehmern, die ein schutzwürdige Interesse nachweisen, Einsicht in den Geschäftsbericht und die Revisionsbericht gewährt werden (Art. 958e Abs. 2 OR). Diese Recht der Gläubiger ist relativ unbekannt.

 

Einsichtnahme durch den Gläubiger bzw. Arbeitnehmres

Das Einsichtsrecht kann nur von aktuellen Gläubigern ausgeübt werden. Es muss sich also um jemanden Handeln, dem eine Forderung gegen das entsprechende Unternehmen zusteht.

Hierzu sind etwa Lieferanten, aktuelle und ehemalige Arbeitnehmer aber auch die öffentliche Hand zu zählen. Auch wer Ansprüche aus culpa in contrahendo (Ansprüche wegen treuwidrigem Verhalten während Vertragsverhandlungen – zu einem Vertrag kommt es in diesem Falle nicht) geltend machen will, gilt als Gläubiger. Nicht darunter fallen aber frühere oder zukünftige Gläubiger.  Es ist somit nicht möglich, sich auf diese Bestimmung zu berufen, sofern man vor einer möglichen Geschäftsbeziehung mit einem Unternehmen steht und die Bonität des künftigen Vertragspartners prüfen will (etwa jemand, der sich überlegt, mit einem Arbeitgeber einen Arbeitsvertrag abzuschliessen). In diesem Fall muss man sich weiterhin auf den Betreibungsregisterauszug sowie auf die Kreditauskünfte stützen. 

 

Interesse des Gläubigers bzw. Arbeitnehmers

Damit das Einsichtsrecht wahrgenommen werden kann, muss der Gläubiger ein schutzwürdiges Interesse nachweisen. Es muss also eine Interessenlage vorliegen, welche die Einsicht in die entsprechenden Unterlagen rechtfertigt. Dabei ist vom Gläubiger aufzuzeigen, wie ihm die Unterlagen nützen werden. Die Gerichte wenden hier keinen allzu strengen Massstab an. So liegt in der Regel bereits ein schutzwürdiges Interesse vor, wenn Indizien für finanzielle Schwierigkeiten eines Unternehmens vorliegen, und so die Einbringlichkeit von Forderungen gefährdet ist. So wird auch ein schutzwürdiges Interessen angenommen, wenn Forderungen nicht rechtzeitig bei Fälligkeit beglichen werden, wenn etwa die Löhne nicht bezahlt werden.

Es ist nämlich davon auszugehen, dass ein Gläubiger ein schutzwürdiges Interesse besitzt, zuerst die Zahlungsfähigkeit des Schuldners abzuklären, bevor er einen Forderungsprozess einleitet. Als schutzwürdig zu betrachten ist die Einsichtnahme auch regelmässig nach Einleitung eines nicht offensichtlich aussichtslosen Forderungsprozesses gegen die Gesellschaft. Eine Bagatellforderung wird in aller Regel nicht ausreichend sein.

Durch das Kriterium des schutzwürdigen Interessens wird verhindert, dass Begehren nur gestellt werden, um Neugierde zu befriedigen oder Konkurrenzverhältnisse auszuspionieren.

 

Geschäftsbericht

Das Einsichtsrecht besteht nur für den aktuellen Geschäftsbericht. Dementsprechend können grundsätzlich keine Geschäfts- und Revisionsberichte der Vorjahre eingesehen werden, sondern nur der letzte Geschäfts- und Revisionsbericht.

Die Einsichtnahme umfasst auch einen allfälligen Konzernbericht, wenn ein solcher erstellt wird, sowie bei grösseren Unternehmen etwa den Lagebericht. Auch der Revisionsbericht umfasst die Revisionsberichte für die Jahres- sowie die Konzernrechnung. Hingegen werden die zusätzlichen, nach anerkannten Rechnungsstandards erstellten Berichte, nicht vom Einsichtsrecht erfasst. Die Rechnung (Milchbüchlein) nach Art. 957 Abs. 2 OR hingegen schon.

Hat eine Gesellschaft den Geschäftsbericht nicht zeitgerecht erstellt (innerhalb von 6 Monaten), so hat das Bezirksgericht Zürich für diesen Fall vor längerer Zeit entschieden, dass die entsprechenden Belege zur Einsicht vorzulegen sind, damit die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft beurteilt werden kann. Evtl. können in einem solchen Fall die Geschäftsberichte früherer Jahr verlangt werden.

 

Wahrung der Geschäftsgeheimnisse

Zum Schutze des Schuldners kann dieser Verlangen, dass Massnahmen ergriffen werden. So können etwa wichtige Passagen, welche Geschäftsgeheimnisse betreffen, geschwärzt werden. Dies betrifft insbesondere Kundennamen, welche aufgrund des Datenschutzgesetztes gar nicht offengelegt werden dürften. Es stellt sich zeitweise die Frage, ob der Schuldner eine Rückstellung für die vom Gläubiger (in einem hängigen Gerichtsverfahren) geltend gemachte Forderung soll schwärzen darf. Sofern dies zulässig wäre, müsste konsequenterweise auch die Bilanzsumme (bzw. weitere Positionen) geschwärzt werden, damit die Höhe der Rückstellung nicht bestimmt werden kann.

 

Modalitäten des Einsichtsrechts

Obwohl der Ort der Einsicht im Gesetz nicht geregelt ist, wird davon ausgegangen, dass die Einsicht am Sitz des Unternehmens, wie dieser im Handelsregister eingetragen ist, vorgenommen wird. Kein Recht besteht für den Gläubiger, Kopien anzufertigen und diese mitzunehmen (dies im Gegensatz zur Einsicht in das Personaldossier gemäss Art. 8 DSG). Oft werden die Inhalte durch den Gläubiger oder dessen Vertreter abgeschrieben. Fotographien sind nicht zulässig.

Will ein Gläubiger Einsicht in den Geschäftsbericht verlangen, wird er in der Regel direkt an den Gläubiger gelangen, wobei es sich empfiehlt, hier eine Frist zu setzen, bis wann die Einsicht gewährt werden soll. Das Handelsregister in die ganze Angelegenheit nicht involviert. Wird die Einsicht nicht gewährt, kann ein entsprechendes Gesuch beim zuständigen Gericht gestellt werden. Zuständig sind die Gerichte am Sitz des Unternehmens. Handelt es sich um einen internationalen Sachverhalt (z.B. Gläubiger mit Wohnsitz/Sitz im Ausland), so sind ebenfalls die Gerichte am Sitz des Unternehmens in der Schweiz zuständig (vgl. Art. 151 IPRG und Art. 2 LugÜ). Die sachliche Zuständigkeit richtet sich nach dem jeweils anwendbaren kantonalen Gerichtsorganisationsgesetz (vgl. Art. 4 ZPO). Im Kanton Zürich ist das Einzelgericht im summarischen Verfahren zuständig,  allenfalls – bei Vorliegen der Voraussetzungen nach Art. 6 Abs. 2 oder Abs. 3 ZPO (insb. Streitwert von mind. CHF 30’000) – das Einzelgericht des Handelsgerichts. Das Verfahren wird direkt beim Gericht, ohne Schlichtungsgesuch, eingeleitet.

 

Autor: Nicolas Facincani