Das Obligationenrecht hält in Art. 335b Abs. 1 OR fest, dass das Arbeitsverhältnis während der Probezeit jederzeit mit einer Kündigungsfrist von sieben Tagen gekündigt werden kann; als Probezeit gilt der erste Monat eines Arbeitsverhältnisses. Durch schriftliche Abrede, Normalarbeitsvertrag oder Gesamtarbeitsvertrag können abweichende Vereinbarungen getroffen werden; die Probezeit darf jedoch auf höchstens drei Monate verlängert werden (Art. 335b Abs. 2 OR). Bei einer effektiven Verkürzung der Probezeit infolge Krankheit, Unfall oder Erfüllung einer nicht freiwillig übernommenen gesetzlichen Pflicht erfolgt eine entsprechende Verlängerung der Probezeit (Art. 335b Abs. 3 OR).

 

Urteil 8C_317/2021 vom 8. März 2022

Das Bundesgericht hatte in seinem Urteil 8C_317/2021 zu beurteilen, ob eine Kündigung innerhalb der Probezeit erfolgt war. Der Fall betraf folgenden Sachverhalt (vereinfacht): Der Arbeitnehmer trat seine Stelle bei den Schweizerischen Bundesbahnen am 16. März 2020 an. Sein unbefristeter Arbeitsvertrag vom 16. März 2020 sah eine Probezeit von drei Monaten vor, d.h. bis am 16. Juni 2020. Der Arbeitnehmer war vom 15. bis 19. Juni 2020 krankgeschrieben. Am 22. Juni 2020 nahm er seine Arbeit wieder auf. Die SBB händigte ihm gleichentags eine auf den 22. Juni 2022 datierte Kündigungsverfügung aus, worin sie festhielt, das Arbeitsverhältnis auf den 29. Juni 2020 zu beenden. Strittig war in der Folge, ob noch während oder nach der Probezeit gekündigt worden war.

Es stellte sich insbesondere die Frage, ob – aufgrund der 2-tägigen krankheitsbedingten Abwesenheit (d.h. am 15. und 16. Juni 2020) die Probezeit einfach um zwei Tage verlängert wurde, d.h. bis am Sonntag dem 21. Juni 2020 oder ob die krankheitsbedingten Abwesenheiten tatsächlich als Probezeittage nachzuholen waren, d.h. an den beiden Wochentagen nach dem Wochenende.

 

Gesetzliche Grundlagen

Auf das Personal der SBB finden gemäss Art. 15 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 20. März 1998 über die Schweizerischen Bundesbahnen (SBBG) die Bestimmungen des Bundespersonalgesetzes vom 24. März 2000 (BPG) Anwendung, ergänzend ist der Gesamtarbeitsvertrag 2019 der SBB (GAV) anwendbar. Finden sich weder in den genannten Vorschriften noch in diesem GAV Regelungen, so ist das Obligationenrecht (OR) subsidiär anwendbar (Ziff. 1 Abs. 3 GAV).

 

Anwendbarkeit von Art. 335b OR

Umstritten war zunächst die (subsidiäre) Anwendung des Obligationenrechts, da es sich um eine öffentlich rechtliches Dienstverhältnis handelte. Der Arbeitnehmer machte geltend, die dreimonatige Probezeit sei bei Aushändigung der Kündigung am 22. Juni 2020 bereits abgelaufen gewesen. Der GAV sei bezüglich der Probezeit ein in sich geschlossenes Konstrukt, wo nötig, erhalte dieser explizite Hinweise. Ziff. 22 GAV sei weder ein expliziter noch impliziter Hinweis auf eine Verlängerung der Probezeit zu entnehmen. Der fehlende Verweis auf Art. 335b OR bzw. die unterlassene Regelung einer Verlängerung der Probezeit im GAV sei als Verzicht auf eine Verlängerung zu werten (E. 5.2.1).

Das Bundesgericht bestätigte, dass die Vorinstanz kein Bundesrecht verletzt habe, wenn sie die Rechtsfrage der Probezeitverlängerung gestützt auf Ziff. 1 Abs. 3 GAV nach den Bestimmungen des OR, insbesondere Art. 335b Abs. 3 OR beantwortet habe. Es treffe zu, dass Ziff. 22 GAV lediglich die grundsätzliche Dauer der Probezeit bestimme, aber keine Ausführungen zu einer allfälligen Verlängerung derselben enthalte. Damit werde die Verlängerung der Probezeit grammatikalisch von der Bestimmung gerade nicht erfasst. Inwiefern damit die vorinstanzliche Rechtsanwendung dem klaren Wortlaut von Ziff. 22 GAV entgegenstehen solle, sei nicht ersichtlich. Insbesondere vermöge der Arbeitnehmer auch nicht aufzuzeigen, dass der darin fehlende Hinweis auf eine Verlängerung als qualifiziertes Schweigen und Ziff. 22 GAV in dieser Hinsicht als abschliessende Regel zu verstehen wäre (E. 5.2.3.2).

 

Beginn und Ende der Probezeit

Beginn und Ende der Probezeit waren folglich nach dem Obligationenrecht zu berechnen. Das Bundesgericht führte aus, dass sich der vorinstanzlich festgestellte Beginn der Probezeit am 16. März 2020 und damit auch ihres grundsätzlichen Endes nach Ablauf von drei Monaten am 16. Juni 2020 nicht beanstanden liessen (E. 5.2.3.1). Die Vorinstanz hatte die Berechnung gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung (BGE 144 III 152, E. 4) in Anwendung von Art. 335b Abs. 1 OR i.V.m. Art. 77 Abs. 1 Ziff. 3 OR vorgenommen.

 

Verlängerung der Probezeit infolge Krankheit

Bezüglich der Frage der Verlängerung der Probezeit hielt das Bundesgericht fest, dass die Vorinstanz im Ergebnis kein Bundesrecht verletzt habe, indem sie erkannte, dass die krankheitsbedingt versäumten Arbeitstage innerhalb der Probezeit (15. und 16. Juni 2020) „effektiv abzuarbeiten“ gewesen seien. Dazu habe sich der Arbeitnehmer – nachdem er bis und mit 19. Juni 2020 (Freitag) krank gewesen und am 20. und 21. Juni 2020 (Samstag und Sonntag) arbeitsfrei gewesen sei – erst am 22. und 23. Juni 2020 (Montag und Dienstag der Folgewoche) in der Lage gesehen. Soweit das Bundesverwaltungsgericht dies als ausschlaggebend erachtet habe, vermöge dies mit Blick auf den Gesetzeszweck zu überzeugen.

Die Probezeit solle es den Parteien ermöglichen, einander kennenzulernen und ein Vertrauensverhältnis aufzubauen bzw. abzuschätzen, ob sie die gegenseitigen Erwartungen erfüllen würden, sodass sie über die in Aussicht genommene langfristige Bindung in Kenntnis der konkreten Umstände befinden können (vgl. dazu u.a. Etter/Stucky in: Etter/Facincani/Sutter (Hrsg.), Arbeitsvertrag, 2021, N 6f. zu Art. 335b OR). Soweit jedoch Art. 335b Abs. 3 OR bei einer effektiven Verkürzung infolge Krankheit, Unfall oder Erfüllung einer gesetzlichen Pflicht immerhin eine Verlängerung der Probezeit vorsehe, liege es aus Sicht des geschilderten Gesetzeszwecks her näher, wenn die Verlängerung auf tatsächliche Arbeitstage umgelegt, mithin real „abgearbeitet“ werde. Anders gewendet würde es Sinn und Zweck der hievor erkannten Verlängerung um die effektiv verpassten Arbeitstage zuwiderlaufen, wenn die Probezeit im Fall des Arbeitnehmers nach seinen krankheitshalber verpassten Arbeitstagen vom 15. und 16. Juni und der bis 19. Juni anhaltenden Krankheitsabsenz bereits am Sonntag (21. Juni 2020) enden würde. Dies möge sich im vorliegenden Fall nachteilig für den Arbeitnehmer auswirken, was allerdings in grundsätzlicher Sicht nichts daran ändere, dass die Probezeit und deren reale Erfüllung dem Interesse beider Vertragsparteien diene (E. 5.2.7).

Das Bundesgericht kam somit zum Schluss, dass die Probezeit erst am 23. Juni 2020 endete und die Kündigung dem Arbeitnehmer am 22. Juni 2020 noch vor deren Ende eröffnet wurde.

 

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Autor: Nicolas Facincani / Stephanie Villiger

 

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