Im Urteil des Obergerichts ZH LA200037 vom 12. Mai 2021 hatte sich das Obergericht mit der vom Bundesgericht bislang unbeantworteten Frage auseinanderzusetzen, ob einem Mitarbeiter auf Abruf (unechte Arbeit auf Abruf) während der Kündigungsfrist ein Mindestanspruch auf Arbeit und damit ein Lohnanspruch zukommt.

Im zu beurteilenden Fall hatten die Parteien des Vertrages vereinbart, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer abrufen könne, diesem aber keine Befolgungspflicht zukommen solle. Der Vertrag sah eine Kündigungsfrist vor. Als der Vertrag gekündigt wurde, folgten durch den Arbeitgeber weniger Angebote für Einsätze.

Es lag somit ein unechter Vertrag auf Abruf vor. Bei einem unechten Arbeitsvertrag auf Abruf ist der Arbeitnehmer nicht verpflichtet, dem Abruf des Arbeitgebers Folge zu leisten. Der Arbeitnehmer hat es in der Hand, das Angebot des Arbeitgebers zu akzeptieren. Dabei kommt ein Vertrag mit den angebotenen Konditionen zustande. Mit jedem akzeptierten Abruf kommt ein neues befristetes Arbeitsverhältnis zustande. Anders ist die Rechtslage hingegen, wenn ein Abruf in gewisser Regelmässigkeit erfolgt, erfolgt eine Umqualifizierung in ein Dauerschuldverhältnis. Dies hat das Obergericht ZH im Urteil LA 200009 vom 29. Oktober 2020 so entschieden. Die Umqualifizierung erfolgt unabhängig von der Bezeichnung des Vertrages durch die Parteien. Dazu das Folgende:

 

Urteil des Obergerichts LA 200009 vom 29. Oktober 2020

Das Obergericht hatte sich hier mit der Qualifikation eines Vertrages – eines unechten Vertrages auf Abruf – auseinanderzusetzen und nahm aufgrund der Dauer und Regelmässigkeit ein Dauerschuldverhältnis an:

Die Qualifikation eines Vertrages, d.h. die Subsumtion eines konkreten Vertrags unter die Legaldefinitionen der gesetzlichen Vertragstypen, stellt keine Tat-, sondern eine Rechtsfrage dar. Sie erfolgt unabhängig vom (selbst übereinstimmenden) Willen oder von der Vorstellung der Parteien und richtet sich einzig nach der typologischen Ausgestaltung resp. den konkreten Merkmalen des Vertrags und mithin nach objektiven Kriterien (BGE 143 II 297 E. 6.4.1; BGer 4A_64/2020 vom 6. August 2020, E. 5; BGer 4A_200/2015 vom 3. September 2015, E. 4.1.3). Ob sich die Parteien der entsprechenden Qualifikation bewusst waren oder einen entsprechenden Vertrag (-styp) abschliessen wollten, ist ohne Belang.

Echte wie unechte Arbeit auf Abruf sind Formen der uneigentlichen Teilzeitarbeit. Bei der sogenannten echten Arbeit auf Abruf behält sich der Arbeitgeber vertraglich das Recht vor, die Arbeitskraft des Arbeitnehmers je nach Arbeitsanfall in Anspruch zu nehmen, wobei den Arbeitnehmer eine Einsatzpflicht nach Weisung des Arbeitgebers trifft. Unechte Arbeit auf Abruf liegt dagegen vor, wenn den Arbeitnehmer keine Einsatzpflicht trifft und ihm freisteht, das wechselnde Arbeitsangebot des Arbeitgebers anzunehmen (BSK OR I-Portmann/Rudolph, Art. 321 N 19; Streiff/von Kaenel/Rudolph, Arbeitsvertrag, Praxiskommentar zu Art. 319- 362, Zürich 2012, Art. 319 N 18). In letzterem Fall liegt den einzelnen Einsätzen häufig ein Rahmenvertrag zugrunde. Ein solcher Rahmenvertrag regelt zwar die Arbeitsbedingungen einheitlich, stellt jedoch selbst noch keinen Arbeitsvertrag dar, da sich der Arbeitnehmer darin nicht zur Leistung von Arbeit verpflichtet (BGer 4A_334/2017 vom 4. Oktober 2017, E. 2.2; BGer 4A_509/2009 vom 7. Januar 2010, E. 2.3; Streiff/von Kaenel/Rudolph, a.a.O., Art. 319 N 18).

Teilzeitarbeit ist abzugrenzen von Gelegenheits- bzw. Aushilfsarbeit. Entscheidend ist, ob die Parteien mehrere Einsätze in Aussicht nehmen und für diese die Rahmenbedingungen einheitlich sein sollen oder ob die Arbeitsbedingungen bei jedem neuen Einsatz tatsächlich neu vereinbart werden. Selbst wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer ausdrücklich keine minimale Arbeitszeit garantiert, sondern der Einsatz nur bei Bedarf erfolgen soll, kann ein Teilzeitarbeitsverhältnis vorliegen. Regelmässig wiederkehrende Beschäftigung bildet ein gewichtiges Indiz für das Vorliegen eines andauernden Arbeitsverhältnisses.

 

Urteil des Arbeitsgerichts Zürich

Dem Urteil des Obergerichts LA200037 vom 12. Mai 2021 lag folgender Entscheid des Arbeitsgerichts Zürich zugrunde:

Das Arbeitsgericht erwog zusammengefasst, angesichts der Häufigkeit der Arbeitseinsätze während der Dauer von mehr als fünf Jahren und der Tatsache, dass es zwischen den Einsätzen nie einen eigentlichen Unterbruch gegeben habe, habe es sich beim Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht um Aushilfs- oder Gelegenheitsarbeit, sondern um ein andauerndes, festes Arbeitsverhältnis und somit um (uneigentliche) Teilzeitarbeit im Sinne von Art. 319 Abs. 2 OR gehandelt.

Das Arbeitspensum und die Arbeitszeiten des Klägers seien je nach Arbeitsanfall durch Abruf von Seiten der Beklagten festgelegt worden. Da der schriftliche Arbeitsvertrag keine eine Befolgungspflicht vorsehe, liege Arbeit auf Abruf ohne Befolgungspflicht (auch unechte Arbeit auf Abruf genannt) vor. Das Ablehnungsrecht des Klägers ändere indes nichts daran, dass zwischen den Parteien ein fortdauerndes Teilzeitarbeitsverhältnis im Sinne von Art. 319 Abs. 2 OR bestanden habe. Ferner erwog sie, Arbeit auf Abruf sei nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung zulässig, allerdings seien die zwingenden gesetzlichen Normen — so insbesondere auch die zwingenden Kündigungsfristen gemäss Art. 335c OR — auch bei dieser Arbeitsform zu beachten (vgl. Art. 361 und 362 OR).

Der Arbeitnehmer habe deshalb einen Anspruch darauf, dass ihm während der Kündigungsfrist die übliche Arbeit zugewiesen werde und, wenn er die Arbeit gehörig anbiete, einen Anspruch auf Lohnzahlung (BGE 125 III 65). In gleicher Weise, wie es das Bundesgericht als nicht zulässig erachte, dass ein Arbeitgeber dem Arbeitnehmer durch die drastische Reduktion der Arbeitseinsätze faktisch die Kündigungsfrist i.S.v. Art. 335c ff. OR entziehe oder das gemäss Art. 324 Abs. 1 OR eigentlich vom Arbeitgeber zu tragende Geschäftsrisiko auf den Arbeitnehmer abwälze, könne es auch nicht angehen, dass ein Arbeitgeber durch dieselbe Vorgehensweise den sachlichen Kündigungsschutz i.S.v. Art. 336 Abs. 1 lit. d OR umgehen könne, indem er dem Arbeitnehmer zwar nicht kündige, dessen Einsätze jedoch derart reduziere, dass sich der Arbeitnehmer mangels ausreichendem Verdienst selbst zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses gezwungen sehe. Eine solche Vorgehensweise wäre als treuwidrige Umgehung des zwingenden sachlichen Kündigungsschutzes zu qualifizieren.

Das Arbeitsgericht schützte daher die Lohnforderung des Arbeitnehmers, welcher verlangte, dass ihm trotz unterlassenem Abruf während der Kündigungsfrist der durchschnittliche Lohn bezahlt werden solle.

 

Argumentation des Arbeitgebers betreffend unechte Arbeit auf Abruf

Der Arbeitgeber stützte sich bei seiner Berufung unter anderen auf einen früheren Entscheid des Arbeitsgerichts selbst und argumentierte im Wesentlichen wie folgt:

[…] Das Arbeitsgericht Zürich habe selbst im Entscheid AN070920 vom 11. Juni 2008 (in der amtlichen Sammlung des Arbeitsgerichts Zürich publiziert, 2008 Nr. 1) das Folgende festgehalten: „Zwar darf das wirtschaftliche Risiko des Arbeitgebers nicht auf den Arbeitnehmer überwälzt werden. Bei der unechten Arbeit auf Abruf kann der Arbeitnehmer jedoch ohne Weiteres einen Einsatz ablehnen, ohne dies begründen zu müssen. Der Arbeitgeber sieht sich hier seinerseits also mit dem Risiko konfrontiert, bei einer guten Auftragslage womöglich keine einsatzwillige Arbeitnehmer zu finden. […]. Vielmehr entstünde ein “nicht zu rechtfertigendes Ungleichgewicht” der Interessen, wenn der Arbeitgeber beim unechten Vertrag auf Abruf zwar Arbeit zuweisen, der Arbeitnehmer jedoch nicht arbeiten muss […].“

Bei der unechten Arbeit auf Abruf entstünde ein wirtschaftliches Ungleichgewicht, sofern der Arbeitgeber verpflichtet wäre, Arbeit zuzuweisen und wenn er nicht täte, dennoch den Lohn zu bezahlen hätte, auf der anderen Seite der Arbeitnehmer jederzeit einen Einsatz abweisen darf. Somit sei bei der unechten Arbeit auf Abruf keine Entschädigung bei einem Nichtabruf während der Kündigungsfrist geschuldet.

Der von der Vorinstanz angeführte BGE 125 III 65 betreffe echte Arbeit auf Abruf und sei daher für den vorliegenden Fall nicht massgeblich. In diesem Entscheid sei in Bezug auf die echte Arbeit auf Abruf entschieden worden, dass währen der Kündigungsfrist das Pensum nicht drastisch reduziert werden dürfe. Ohnehin sei der vorgenannte Bundesgerichtsentscheid – welcher mithin nur die echte Arbeit auf Abruf betreffe – nicht ohne Kritik geblieben. So würden etwa Portmann/Rudolph die Begründung als dogmatisch fragwürdig erachten. Sodann hielten auch Portmann/Rudolph fest, dass ein Lohnfortzahlungsanspruch infolge ungenügenden Abrufs (auch bei echter Arbeit auf Abruf) ausser Betracht falle (vgl. zum Ganzen Portmann/Rudolph, BSK OR, Art. 321 N 19). Im Übrigen verbiete BGE 125 III 65 nur eine sog. “diminuation brutale”, was vorliegend nicht gegeben sei. Im entsprechenden Entscheid sei der Arbeitnehmer während der Kündigungsfrist überhaupt nicht mehr abgerufen worden. Festzuhalten bleibe also, dass der von der Vorinstanz zitierte Entscheid vorliegend gar keine Anwendung finde.

Das Bundesgericht habe sich entgegen der Ansicht der Vorinstanz gar nicht zur Lohnfortzahlungspflicht während der Kündigungsfrist bei der unechten Arbeit auf Abruf geäussert. […]

Es könne abschliessend festgehalten werden, dass nach Rechtsprechung und Lehre bei der unechten Arbeit auf Abruf während der Kündigungsfrist keine Pflicht des Arbeitgebers bzw. Anspruch des Arbeitnehmers auf Zuweisung der durchschnittlich geleisteten Arbeit bzw. – wenn der Arbeitgeber auf einen Einsatz des Arbeitnehmers verzichtee – die entsprechende Entlöhnung bestehe (Streiff/von Kaenel/Rudolph, a.a.O., Art. 319 N 18; Portmann/Rudolph, a.a.O., Art. 321 N 19; Meier-Gubser, Teilzeitarbeit – Mögliche arbeitsrechtliche Stolpersteine, TREX 1/2011, S. 22 ff.; AGer ZH AN070920 vom 11.06.2008; BGer 4A_509/2009 vom 07.01.2010). Die Vorinstanz sei dieser Auslegung des Gesetztes nicht gefolgt und habe daher Bundesrecht verletzt, indem sie die Ansicht vertrete, der Arbeitnehmer habe einen Anspruch auf gleich Entlöhnung auf während der Kündigungsfrist gehabt und so den Arbeitgeber zu einer Lohnzahlung verurteilte.

 

Urteil des Obergerichts LA200037 vom 12. Mai 2021

Das Obergericht des Kantons Zürich schützte den Entscheid des Arbeitsgerichts mit der nachfolgenden Begründung:

Ein Teil der Lehre — insofern ist der Beklagten beizupflichten — vertritt die Auffassung, dass die vom Bundesgericht im Zusammenhang mit echter Arbeit auf Abruf aufgestellte Argumentation, wonach infolge des zwingenden Charakters von Art. 335c OR während der Kündigungsfrist mindestens das durchschnittliche Arbeitsaufkommen zuzuweisen sei, auf die unechte Abrufarbeit nicht übertragbar sei (BSK OR-Portmann/Rudolph, Art. 321 N 19; Streiff/von Kaenel/Rudolph, a.a.O., Art. 319 OR N 18). Dies mit der Begründung, dass dadurch ein nicht zu rechtfertigendes Ungleichgewicht entstünde, indem der Arbeitgeber Arbeit zuweisen, der Arbeitnehmer jedoch nicht arbeiten müsse. Insbesondere stelle aber der unechte Abrufvertrag vor der konkreten Einsatzvereinbarung noch keinen Arbeitsvertrag dar, da sich der Arbeitnehmer nicht zur Leistung von Arbeit verpflichtet habe (Streiff/von Kaenel/Rudolph, a.a.O., Art. 319 OR N 18). Einhergehend mit einer anderen Lehrmeinung ist jedoch davon auszugehen, dass unabhängig vom Vorliegen einer Befolgungspflicht nach einer gewissen Dauer des Arbeitsverhältnisses und einer gewissen Regelmässigkeit der Einsätze von einem vertraglichen Grundpensum ausgegangen werden muss und eine massive Reduktion der Abrufhäufigkeit aufgrund des Vertrauensschutzes nur unter Einhaltung der Kündigungsfrist zulässig ist (Brugger, Die Arbeitsverhinderung bei Teilzeiterwerbstätigen und Mehrfachbeschäftigten, Diss. 2017, N 187; Roncoroni, Arbeit auf Abruf und Gelegenheitsarbeit, in: AJP 1998, 1410 ff., 1413; Hans-Peter Egli, Neue Tendenzen bei der Teilzeitarbeit, SJZ 96 [2000], 205 ff., S. 209 unter Berufung auf AGer ZH in JAR 1986 S. 68; OGer ZH LA200009 vom 29. Oktober 2020, E. III. 2.4.3; OGer ZH LA020029 vom 10. Juni 2003, E. 2d, in JAR 2004 S. 587 ff., S. 590)). Dieser Auffassung steht entgegen der Ansicht der Beklagten auch die höchstrichterliche Rechtsprechung nicht entgegen.

 

Siehe hierzu auch (Auswahl):

 

Autor: Nicolas Facincani

 

 

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