Was gilt, wenn der Arbeitgeber den fälligen Lohn nicht bezahlt? Darf der Arbeitnehmer die Arbeit einstellen, ohne dass er eine (berechtigte) fristlose Entlassung riskiert?

 

Art. 82 OR

Gemäss Art. 82 OR muss eine Person, die einen zweiseitigen Vertrag eingeht, ihre eigene Verpflichtung erfüllt oder angeboten haben, damit die Gegenpartei zur Leistung verpflichtet werden kann. Art. 82 OR gewährt dem Schuldner eine sog. „aufschiebende Einrede“ („exceptio non adimpleti contractus“) die es ihm erlaubt, erst dann zu leisten, wenn sein Vertragspartner seine Leistung erbracht oder angeboten hat. Es liegt an dem Schuldner, diese Einrede zu erheben. Nach der Berufung des Schuldners auf die Einrede obliegt es dem Gläubiger, den Nachweis zu erbringen, dass er seine eigene Leistung erbracht oder angeboten hat (BGE 127 III 199 Erw. 3a; 123 III 16, Erw. 2b; BGer 4A_252/2008 vom 28. August 2008, Erw. 2.2).

 

Anwendbarkeit von Art. 82 auf Arbeitsverträge

Nach der Rechtsprechung gilt diese Bestimmung (d.h. Art. 82 OR) zumindest analog für den Arbeitsvertrag (BGE 135 III 349, Erw. 4.2120 II 209, Erw. 6a; Tercier/Bieri/Carron, Les contrats spéciaux, 5e éd. 2016, n. 335; Gauch/Schluep/Emmenegger, Schweizerisches Obligationenrecht, Generaliner Teil, T. II, 10e éd. 2014, n. 2215). Der Arbeitgeber gerät mit seiner eigenen Verpflichtung (Art. 102 ff. OR) in Verzug, wenn er mit der Zahlung überfälliger Löhne in Verzug ist; der Arbeitnehmer kann sich dann auf die Ausnahme der Nichterfüllung durch analoge Anwendung von Art. 82 OR berufen und die Ausführung seiner Arbeit verweigern). Während dieser Zeit wächst der Lohnanspruch weiter.

 

BGE 120 II 209

Die analoge Anwendbarkeit wurde vom Bundesgericht explizit in BGE 120 II 209 festgehalten. Hier wurde der Arbeitnehmer fristlos entlassen, nachdem er die Arbeit verweigerte, weil der Arbeitgeber mit dem Lohn im Verzug war:

[…] Da die Arbeit für den fälligen Lohn bereits erbracht, die gegenwärtige Arbeitsleistung mithin nicht Gegenleistung der ausstehenden Lohnzahlung, sondern eines künftigen Lohnanspruchs ist, fehlt es – streng genommen – am Austauschverhältnis, das die Einrede des nichterfüllten Vertrages voraussetzt (GUHL/MERZ/KOLLER, a.a.O.). Es rechtfertigt sich aber, dem Arbeitnehmer bei Ausbleiben der Lohnzahlung für vergangene Lohnperioden zumindest in analoger Anwendung von Art. 82 OR ein Leistungsverweigerungsrecht zuzugestehen (sog. obligatorisches Retentionsrecht; vgl. BGE 94 II 263 E. 3a, S. 267 f.; BGE 78 II 376 E. 2, S. 378). Art. 82 OR beruht auf dem allgemeinen Grundgedanken, dass der Belangte nur insoweit gezwungen werden kann, seine Leistung zu kreditieren, als er vertraglich zur Vorleistung verpflichtet ist. Dieser Grundgedanke trifft insbesondere auch auf Dauerschuldverhältnisse mit zeitlich verschobenen Fälligkeiten innerhalb der einzelnen Leistungspaare zu. Davon geht das Bundesgericht in seiner Rechtsprechung zum Sukzessivlieferungsvertrag seit jeher aus (BGE 84 II 149 f. mit Hinweisen). Für den Arbeitsvertrag kann nichts anderes gelten (SIMMEN, a.a.O.; vgl. auch ENGEL, Traité des obligations en droit suisse, S. 442). Auch dem Arbeitnehmer muss die Möglichkeit offenstehen zu verhindern, dass er dem Arbeitgeber auf unbestimmte Zeit Kredit gewährt und das Risiko trägt, die Gegenleistung nicht zu erhalten (WEBER, a.a.O.). Solange der Arbeitgeber sich mit verfallenen Lohnzahlungen im Rückstand befindet, kann daher der Arbeitnehmer die Leistung von Arbeit verweigern.

b) Ausgehend von der Feststellung der Vorinstanz, dass die Beklagte Ende Dezember 1991 mit den Lohnzahlungen für die Vormonate erheblich im Rückstand war, war der Kläger nach dem Gesagten befugt, seine Arbeitsleistungen einzustellen. Damit erweist sich auch der Schluss des Kantonsgerichts als bundesrechtskonform, dass der Kläger mit seiner Arbeitsverweigerung keinen wichtigen Grund gesetzt hat, der die von der Beklagten ausgesprochene fristlose Entlassung rechtfertigen würde. (…).

 

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Autor: Nicolas Facincani 

 

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