Im Urteil BGer 4A_293/2019 vom 22. Oktober 2019 hatte sich das Bundesgericht mit folgendem Sachverhalt auseinanderzusetzen:

Der Arbeitnehmer war ab dem 14. Januar 2002 beim Arbeitgeber als Abteilungsleiter «Einkauf/ Verkauf DVD» angestellt. Am 27. August 2014 kam es mit dem Arbeitgeber, beziehungsweise einem Verwaltungsrat des Arbeitgebers zu einer Auseinandersetzung. Ab dem Folgetag war der Arbeitnehmer bis Ende Januar 2016 krankgeschrieben. Mit Schreiben vom 15. September 2014 teilte der Arbeitgeber mit, dass er plane, das Arbeitsverhältnis nach der Genesung aufzulösen und den Arbeitnehmer von jeglicher Arbeitsleistung freizustellen. Am 24. Februar 2015 erfolgt die Kündigung.

Der Arbeitnehmer machte geltend, die Kündigung sei missbräuchlich erfolgt, da ihn der Arbeitgeber wegen einer Krankheit entlassen habe, die dieser durch jahrelange Überforderung am Arbeitsplatz selbst verursacht habe. Der Arbeitgeber führte jedoch andere Kündigungsgründe an.

Das Bundesgericht bestätigte zuerst das Prinzip der Kündigungsfreiheit im schweizerischen Arbeitsrecht: Ein unbefristetes Arbeitsverhältnis kann von jeder Vertragspartei unter Einhaltung der gesetzlichen oder vertraglichen Kündigungsfrist gekündigt werden (Art. 335 Abs. 1 OR). Es bedarf grundsätzlich keiner besonderen Gründe, um kündigen zu können.

Hingegen findet das Prinzip der Kündigungsfreiheit seine Grenzen im Missbrauchsverbot. Wird die Kündigung aus verschiedenen im Gesetz aufgelisteten Gründen ausgesprochen, ist sie missbräuchlich – unabhängig davon, ob vom Arbeitgeber oder vom Arbeitnehmer ausgesprochen (Art. 336 OR). Durch Art. 336 OR wird das Rechtsmissbrauchsverbot von Art. 2 Abs. 2 ZGB konkretisiert.

Das Bundesgericht bestätigte, dass es zulässig sei (und nicht per se missbräuchlich), jemandem wegen einer die Arbeitsleistung beeinträchtigenden Krankheit zu kündigen, jedenfalls soweit die Sperrfrist nach Art. 336c Abs. 1 lit. b OR abgelaufen ist. Dagegen läge eine nach Art. 336 OR verpönte Treuwidrigkeit vor, wenn die krankheitsbedingte Beeinträchtigung der Verletzung einer dem Arbeitgeber obliegenden Fürsorgepflicht zuzuschreiben wäre. Das Bundesgericht hielt aber fest, dass eine Kündigung nur dann missbräuchlich ist, wenn der Arbeitgeber um die «Kausalität zwischen Fürsorgepflichtverletzung und Krankheit» wisse. Der Arbeitgeber muss sich somit bewusst sein, dass er für die Krankheit verantwortlich ist und dann trotzdem kündigen, damit die Kündigung missbräuchlich ist.

 

Konsequenz für die Praxis

Die Gründe, welche eine Kündigung des Arbeitgebers missbräuchlich machen, sind in Art. 336 OR aufgelistet. Das Bundesgericht hat aber mehrfach betont, dass Art. 336 OR nicht abschliessend sei. Somit fallen auch gegen das Rechtsmissbrauchsverbot fallende Fälle darunter, die eine mit den in Art. 336 OR genannten vergleichbare Schwere aufweisen. So sind auch demütigende Kündigungen missbräuchlich. Ebenso, wenn in Mobbingsituationen eine Kündigung ausgerechnet gegen das Mobbingopfer ausgesprochen wird. Ausserdem kann eine Kündigung in Konfliktsituationen missbräuchlich sein (sogenannte Konfliktkündigungen). Nach der jüngeren Rechtsprechung ist eine Kündigung dann missbräuchlich, wenn ein Arbeitgeber in einer Konfliktsituation am Arbeitsplatz eine Kündigung ausspricht, ohne zuvor zumutbare Massnahmen zur Entschärfung der Situation getroffen zu haben.

Für einen Arbeitgeber ist es somit im Einzelfall schwierig abzuschätzen, ob eine Kündigung in den Bereich der Missbräuchlichkeit fällt oder nicht, da die Gerichte stark dazu tendieren, den Anwendungsbereich der missbräuchlichen Kündigung auszuweiten (siehe hierzu insbesondere den Beitrag zur Missbräuchlichen Kündigung).

 

Autor: Nicolas Facincani