Im Entscheid A-3584/2020 vom 12. April 2021 hatte sich das Bundesverwaltungsgericht mit der Frage zu befassen, ob einer Richterin/Arbeitnehmerin gestützt auf die Fürsorgepflicht nach Art. 328 OR Anwaltskosten zu ersetzen seien, was vom Bundesverwaltungsgericht für den konkreten Fall bejaht wurde.

 

Sachverhalt

Dem Entscheid A-3584/2020 vom 12. April 2021 des Bundesverwaltungsgerichts lag im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde:

Ab Beginn des Jahres 2020 führte die Verwaltungskommission des Bundesgerichts (nachfolgend: VK Bundesgericht) ein aufsichtsrechtliches Verfahren betreffend Vorkommnisse am Bundesstrafgericht durch, in dessen Rahmen verschiedene Richterpersonen des Bundesstrafgerichts – darunter auch Richterin/Arbeitnehmerin – einvernommen wurden. Das aufsichtsrechtliche Verfahren wurde mit Bericht vom 5. April 2020 abgeschlossen. Am 20. April 2020 wurde der Bericht auf der Webseite des Bundesgerichts in nicht-anonymisierter Form veröffentlicht.

Nach Veröffentlichung des Aufsichtsberichts nahmen die Zeitungen „Schweiz am Wochenende“ vom 25. April 2020 sowie „Die Weltwoche“ vom 30. April 2020 Bezug auf den Aufsichtsbericht vom 5. April 2020 und führten aus, das Bundesgericht habe im Bericht festgehalten, das Vorgehen von Richterin/Arbeitnehmerin, wonach sie gerichtsintern ungelöste Probleme, vorab über das zu Nationalrat B. bestehende Vertrauensverhältnis, ins Parlament hineingetragen habe, verletze das Amtsgeheimnis.

Am 5. Mai 2020 liess Richterin/Arbeitnehmerin die Verwaltungskommission des Bundesstrafgerichts um Kostengutsprache für den Beizug eines externen Rechtsanwalts „in dieser höchst delikaten Angelegenheit“ ersuchen. Sie sehe sich nicht nur im Aufsichtsbericht zu Unrecht kritisiert, sondern gestützt darauf auch in verschiedenen Medien offen dem Vorwurf ausgesetzt, sie habe eine strafbare Amtsgeheimnisverletzung begangen. Dies sei eine erhebliche Belastung und Bedrohung, die nicht nur ihre Autorität als Richterin, sondern auch ihre Karriere gefährden könnte. Es sei daher Abhilfe nötig und dringend geboten, was nur mittels externer professioneller Hilfe erfolgen könne.

Zu einem späteren Zeitpunkt führte die Arbeitnehmerin/Richterin zudem aus, dass nicht nur ihr guter Ruf durch den Vorwurf der Amtsgeheimnisverletzung schwerwiegend verletzt worden sei, sondern auch ihre Persönlichkeit, indem sich der Präsident des Bundesgerichts anlässlich der Untersuchung Dritten gegenüber herablassend über sie geäussert habe. Diese Rechtsverletzung sei medial verwertet worden und nunmehr würden sich die Medienanfragen häufen. Es sei daher in den letzten Tagen deutlich hervorgetreten, dass professioneller Rechtsbeistand unabdingbar sei und sie zwingend auf die Hilfe eines mit Medien und Reputationsschutz erfahrenen Rechtsvertreters zurückgreifen können müsse.

Das Begehren wurde von der Verwaltungskommission abgelehnt, da die Voraussetzungen des Art. 77 der Bundespersonalverordnung vom 3. Juli 2001 (BPV, SR 172.220.111.3), welcher für Richter und Richterinnen der eidgenössischen Gerichte analog anzuwenden sei, nicht erfüllt seien.

 

Anwendbare Normen

Zuerst stellte sich die Frage der anwendbaren Normen bzw. die Frage, ob hier tatsächlich Art. 77 BPV einschlägig ist (Erw. 4):

Vorliegend handelt es sich um eine Streitigkeit auf dem Gebiet des Arbeitsverhältnisses einer ordentlichen Richterin des Bundesstrafgerichts. Zur Anwendung gelange deshalb nicht das Bundespersonalrecht, sondern die – bewusst knapp gehaltene (vgl. Totalrevision der Bundesrechtspflege, Zusatzbericht der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates zum Entwurf für eine Richterverordnung vom 23. Mai 2002, BBl 2002 5903 ff., Ziff. 2.1) – Richterverordnung vom 13. Dezember 2002 (SR 173.711.1). Diese regle das Arbeitsverhältnis der ordentlichen Richter und Richterinnen des Bundesstrafgerichts (sowie dasjenige der Richter und Richterinnen des Bundesverwaltungsgerichts und der hauptamtlichen Richter und Richterinnen des Bundespatentgerichts) in eigenständiger Form (vgl. Art. 1 Richterverordnung). Dementsprechend sehe auch Art. 2 Abs. 2 Bst. a des Bundespersonalgesetzes vom 24. März 2000 (BPG, SR 172.220.111.3) ausdrücklich vor, dass das Bundespersonalrecht nicht für die von der Bundesversammlung nach Art. 168 der Bundesverfassung (BV, SR 101) gewählten Personen, wozu auch die Richterinnen und Richter des Bundesstrafgerichts gehören (Art. 42 Abs. 1 StBOG), gelte.

Die Richterverordnung verweise zwar an verschiedenen Stellen auf Bestimmungen des Bundespersonalrechts. Dabei handle es sich allerdings nicht um eine umfassende, subsidiäre Anwendbarkeit des Bundespersonalrechts, sondern lediglich um punktuelle Verweise. Auch ansonsten verweise die Richterverordnung auf keinen Erlass, der subsidiär zur Anwendung gelangen würde, wie dies beispielsweise im Anwendungsbereich des Bundespersonalrechts mit dem in Art. 6 Abs. 2 BPG enthaltenen Verweis auf die Bestimmungen des Obligationenrechts (OR, SR 220) der Fall sei.

Geprüft wurde, ob unter einer analogen Anwendung von Art. 77 BPV die Übernahme der Anwaltskosten möglich sei, was aber verneint wurde (Erw. 5).

 

Anwendbarkeit von Art. 328 OR

Die Arbeitnehmerin/Richterin berief sich nicht auf Art. 77 BPV, sondern auf die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers nach Art. 328 OR. Zu prüfen war daher, ob Art. 328 OR hier zu Anwendung gelange was bejaht wurde (Erw. 6):

Dem Arbeitgeber obliegt gemäss Art. 328 Abs. 1 OR die allgemeine Pflicht, im Arbeitsverhältnis die Persönlichkeit des Arbeitnehmers zu achten und zu schützen. Dieser wichtigste und bedeutsamste Aspekt der allgemeinen Fürsorgepflicht des Arbeitgebers (PORTMANN/RUDOLPH, in: Basler Kommentar zum Obligationenrecht I, 7. Aufl. 2020, Art. 328 Rz. 4) gilt im Bundespersonalrecht aufgrund des allgemeinen Verweises auf das OR in Art. 6 Abs. 2 BPG. Wie erwähnt gilt für die Richter und Richterinnen des Bundesstrafgerichts jedoch nicht das Bundespersonalrecht, sondern die Richterverordnung. Diese enthält keine entsprechende Bestimmung und verweist hierfür weder auf das Bundespersonalrecht noch direkt auf Art. 328 OR. Es stellt sich daher zunächst die Frage, ob die Vorinstanz in Bezug auf die Beschwerdeführerin als Richterin des Bundesstrafgerichts überhaupt eine Fürsorgepflicht im Sinne von Art. 328 OR trifft.

Die Fürsorgepflicht des Arbeitsgebers gegenüber dem Arbeitnehmer ist das Gegenstück der Treuepflicht des Arbeitnehmers (vgl. Art. 321a Abs. 1 OR und Art. 20 Abs. 1 BPG) und hat denselben umfassenden Charakter wie diese (BGE 132 III 257 E. 5.1 und 132 III 115 E. 2.2; Urteil des BVGer A-6750/2018 vom 16. Dezember 2019 E. 5.2.1, REHBINDER/STÖCKLI, in: Hausheer/Walter [Hrsg.], Berner Kommentar zu Art. 319-330b OR, 2010, Art. 328 N 1 f.; PORTMANN/RUDOLPH, a.a.O., Art. 328 N 1). Sofern die Beschwerdeführerin als Richterin des Bundesstrafgerichts der Treuepflicht unterliegt, obliegt der Vorinstanz als Arbeitgeberin ihr gegenüber folglich auch eine Fürsorgepflicht. Die Treuepflicht des Arbeitnehmers gilt ohne ausdrückliche Gesetzesvorschrift und nach der Rechtsprechung selbst für den Bundesrat und den Bundesanwalt (BGE 116 IV 56 E. III; Urteil des BVGer A-2138/2020 vom 22. Juli 2020 E. 6.1), welche wie die Richterinnen und Richter des Bundesstrafgerichts von der Bundesversammlung gewählt werden (vgl. Art. 168 Abs. 1 BV sowie Art. 20 Abs. 1 und Art. 42 Abs. 1 StBOG) und vor Amtsantritt den Eid oder das Gelübde auf eine gewissenhafte Pflichterfüllung ablegen (vgl. Art. 3 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 2002 [ParlG, SR 171.10] sowie Art. 47 Abs. 1 StBOG). Daraus ist zu schliessen, dass auch die Richter und Richterinnen des Bundesstrafgerichts der vorerwähnten Treuepflicht unterstehen, auch wenn diese durch die verfassungsrechtlich garantierte richterliche Unabhängigkeit bei der rechtsprechenden Tätigkeit (Art. 191c BV) bis zu einem gewissen Grad begrenzt wird (vgl. hierzu auch Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement EJPD, Amtspflichten der Richterinnen und Richter der erstinstanzlichen Bundesgerichte, Gutachten vom 23. Oktober 2007, in: VPB 2008 Nr. 24 S. 306 ff., Ziff. 1.8, wonach die Treuepflicht zu den Amtspflichten der Richterinnen und Richter der erstinstanzlichen Bundesgerichte gehört). Folglich hat die Beschwerdeführerin auch Anspruch auf Fürsorge durch die Vorinstanz, denn was für die Treuepflicht der Arbeitnehmenden gilt, muss im Gegenzug auch für die korrelierende Fürsorgepflicht des Arbeitgebers gelten. Entsprechend ist Art. 328 OR vorliegend analog anzuwenden.

 

Bejahung der Kostenübernahme

Nach Art. 328 Abs. 1 OR ist der Arbeitgeber verpflichtet, die Persönlichkeitsgüter des Arbeitnehmers zu achten und zu schützen und auf dessen Gesundheit gebührend Rücksicht zu nehmen. Er hat sich jedes durch den Arbeitsvertrag nicht gerechtfertigten Eingriffs in die Persönlichkeitsrechte zu enthalten und diese auch gegen Eingriffe Vorgesetzter, Mitarbeiter oder Dritter zu schützen (BGE 132 III 257 E. 5.1 und 132 III 115 E. 2.2; Urteil des BVGer A-3192/2019 vom 27. November 2019 E. 5.4.1). Zu den geschützten Rechtsgütern gehören u.a. auch die persönliche und berufliche Ehre sowie die Stellung und das Ansehen im Betrieb. Der Umfang der Fürsorgepflicht bestimmt sich im Einzelfall nach Treu und Glauben, wobei deren Grenze die berechtigten Gegeninteressen des Arbeitgebers bilden (zum Ganzen: PORTMANN/RUDOLPH, a.a.O., Art. 328 N 1 ff.; REHBINDER/STÖCKLI, a.a.O., Art. 328 N 1 ff.; STREIFF/VON KAENEL/RUDOLPH, Arbeitsvertrag, Praxiskommentar, 7. Aufl. 2012, Art. 328 OR N 2, 3 und 7; MICHEL PELLASCIO, OR Kommentar, Orell Füssli Kommentar, 3. Aufl. 2016, Art. 328 N 1 ff.) (E. 6.3).

Die Übernahme der Kosten wurde insbesondere deshalb bejaht, da die Arbeitnehmerin/Richterin ohne ihr Verschulden in diese Situation geraten sei. Zudem stehe der Vorwurf der Amtsgeheimnisverletzung im Zusammenhang mit ihrer dienstlichen Tätigkeit. Einerseits betrifft der Vorwurf gerade ihre Amtstätigkeit. Andererseits habe das aufsichtsrechtliche Verfahren, in welchem die Beschwerdeführerin in ihrer Funktion als Richterin am Bundesstrafgericht einvernommen wurde, Ausgangspunkt des in den Medien erhobenen Vorwurfs der Amtsgeheimnisverletzung gebildet.

Die Beschwerdeführerin sah sich somit unverschuldet und aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit mit einem in den Medien zu Unrecht erhobenen Vorwurf, eine strafbare Handlung begangen zu haben, konfrontiert. Dass sie in dieser für sie belastenden Situation auf einen medienrechtlich erfahrenen Rechtsvertreter zurückgriff, um einerseits zum Schutz ihrer Reputation und ihrer beruflichen Karriere sowie auch zur Abwendung eines Strafverfahrens den zu Unrecht erhobenen Vorwurf zu entkräften und diesbezüglich Klarheit zu schaffen sowie andererseits allfällige Medienanfragen in diesem Zusammenhang zu beantworten, erscheint nachvollziehbar und aufgrund der möglichen Auswirkungen auf ihre berufliche Karriere durchaus geboten (E. 6.4.4).

 

Zur Fürsorgepflicht des Arbeitgebers siehe auch (Auswahl):

 

Autor: Nicolas Facincani