Kann die Arbeitnehmerin die Arbeit infolge Verschuldens der Arbeitgeberin nicht leisten oder kommt letztere aus anderen Gründen mit der Annahme der Ar­beitsleistung in Verzug (auch weil sich ein Betriebsrisiko verwirklicht), so bleibt sie gemäss Art. 324 Abs. 1 OR zur Entrichtung des Lohnes verpflichtet, ohne dass die Arbeitnehmerin zur Nachleistung verpflichtet ist (sog. Annahmeverzug).

In den Art. 5 und 6 der COVID-19-Verordnung 2 ordnete der Bundesrat die Schliessung von Schulen, Hochschulen und weiteren Ausbildungsstätten sowie von gewissen Betrieben mit Publikumsverkehr an. Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits bildet die Frage, ob die Beschwerdegegner einen Anspruch auf Lohnfortzahlung nach der behördlichen Schliessung des Internatsbetriebs der Beschwerdeführerin hatten.

Durch das Massnahmenpaket, das der Bundesrat zur Abfederung der wirtschaftlichen Folgen der Betriebsschliessungen verabschiedete, wurde die Frage der Lohnfortzahlungspflicht nicht gegenstandslos. Für die betriebsseitigen Arbeitsausfälle stand die Kurzarbeitsentschädigung zur Verfügung (Art. 31 ff. AVIG). Diese deckte jedoch nur 80 % des Monatssalärs und maximal Fr. 9’880.– pro Monat, nämlich 80 % von Fr. 12’350.– (Art. 23 Abs. 1 und Art. 34 Abs. 1 und 2 AVIG). Insoweit wurde die Problematik bloss entschärft.

Umstritten war die Frage, ob eine Schliessung des Betriebs auf behördliche Anordnung wegen einer Epidemie zum Betriebsrisiko des Arbeitgebers zählt oder nicht. Gehört die Schliessung zum Betriebsrisiko des Arbeitgebers, ist der Lohn weiterhin geschuldet. In Deutschland wurde der Lohnanspruch durch das Bundesarbeitsgericht verneint.

Das Arbeitsgericht Zürich (Einzelrichterin im vereinfachten Verfahren / Geschäfts-Nr.: AH210123) hatte etwa einen Lohnanspruch für einen konkreten Sachverhalt bejaht. Andere Gerichte haben gegenteilig entschieden.

Nun liegt ein erster begründeter Entscheid des Bundesgerichts vor (Urteil vom 30. August 2023 (4A_53/2023).

 

Sachverhalt

Dem Entscheid des Bundesgerichts lag folgender Sachverhalt zugrunde (Urteil vom 30. August 2023 (4A_53/2023):

Drei Lehrkräfte einer Privatschule im Kanton St. Gallen hatten im Januar 2020 ihre Arbeitsverhältnisse per Ende August 2020 gekündigt. Mitte April teilte die Arbeitgeberin ihnen mit, dass der Schulbetrieb wegen des Coronavirus auf behördliche Anordnung eingestellt werde. Der Lohn werde im Umfang der entfallenen Arbeit gekürzt. Da die Betroffenen ihren Arbeitsvertrag gekündigt hätten, sei die Beantragung von Kurzarbeit nicht möglich. In der Folge richtete die Arbeitgeberin ihnen gekürzte Löhne aus. Das Kreisgericht St. Gallen hiess die dagegen erhobene Klage der Angestellten 2021 gut und verpflichtete die Arbeitgeberin zu Lohnnachzahlungen. Das Kantonsgericht bestätigte den Entscheid. Die Vorinstanzen kamen zum Schluss, die behördliche Betriebsschliessung zur Bekämpfung des Coronavirus gehöre zum Betriebsrisiko der Arbeitgeberin. Diese sei in Annahmeverzug geraten, als sie den Beschwerdegegnern nicht mehr genügend Arbeit habe anbieten können. Daher bestehe ein Anspruch auf Lohnfortzahlung.

Zur Begründung betonen die Vorinstanzen das Wesen des Arbeitsvertrags und den Sozialschutzgedanken des Arbeitsrechts. Sie verwiesen auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung, wonach die Arbeitgeber typischerweise das wirtschaftliche Risiko tragen und die Arbeitnehmer auf eine unternehmerische Teilnahme am Markt verzichten (Urteile 4A_64/2020 vom 6. August 2020 E. 6.3.5; 4A_592/2016 vom 16. März 2017 E. 2.1; 4A_200/2015 vom 3. September 2015 E. 4.2.3; 4A_602/2013 vom 27. März 2014 E. 3.2; 4A_194/2011 vom 5. Juli 2011 E. 5.6.1). Geht es nach den Vorinstanzen, spricht dies dafür, die Risikosphäre der Arbeitgeber im Rahmen von Art. 324 OR „eher weiter zu fassen“.

 

Gläubigerverzug

Das Bundesgericht setzte sich zunächst mit der Definition und den Rechtsfolgen des Gläubigerverzuges auseinander:

Der Gläubiger kommt in Verzug, wenn er die Annahme der gehörig angebotenen Leistung oder die Vornahme der ihm obliegenden Vorbereitungshandlungen, ohne die der Schuldner zu erfüllen nicht imstande ist, ungerechtfertigterweise verweigert (Art. 91 OR). Der allgemeine Teil des Obligationenrechts sieht für diesen Fall vor, dass der Schuldner vom Vertrag zurücktreten kann (Art. 95 OR). Weil diese Rechtsfolge bei einem Dauerschuldverhältnis kaum adäquat ist, hat der Gesetzgeber beim Arbeitsvertrag eine Sonderregel geschaffen: Kann die Arbeit infolge Verschuldens des Arbeitgebers nicht geleistet werden oder kommt er aus anderen Gründen mit der Annahme der Arbeitsleistung in Verzug, so bleibt er zur Entrichtung des Lohnes verpflichtet, ohne dass der Arbeitnehmer zur Nachleistung verpflichtet ist (Art. 324 Abs. 1 OR). Dafür hat der Arbeitnehmer kein Recht, vom Vertrag zurückzutreten (BGE 124 III 346 E. 2a mit zahlreichen Hinweisen; 116 II 42 E. 5b; Urteile 4A_291/2008 vom 2. Dezember 2008 E. 3.2 mit Hinweis; 4A_458/2018 vom 29. Januar 2020 E. 4.4.2; 4A_666/2017 vom 17. Mai 2018 E. 4.1). 

Die gleichen Rechtsfolgen treten ein, wenn die Leistung aus einem Grund unmöglich geworden ist, der im Risikobereich des Arbeitgebers liegt. Dabei steht in der Lehre ausser Diskussion, dass Art. 324 Abs. 1 OR auch jene Fälle erfasst, in denen ohne das Verschulden des Arbeitgebers die Arbeitsleistung wegen eines Ereignisses unmöglich geworden ist, das in seiner Risikosphäre liegt. Insofern geht Art. 324 Abs. 1 OR der allgemeinen Regel von Art. 119 OR vor. Ferner trägt nach nahezu einhelliger Auffassung der Arbeitgeber das Betriebs- und Wirtschaftsrisiko (BGE 124 III 346 E. 2a; Urteil 4A_291/2008 vom 2. Dezember 2008 E. 3.2; je mit Hinweisen). 

 

Lehrmeinungen

Die Lehrmeinungen zur zu beurteilenden Rechtsfrage sind, wie ausgeführt, gespalten.

Ein Teil des Schrifttums vertritt die Auffassung, behördliche Betriebsschliessungen lägen ausserhalb der Risikosphäre der Arbeitgeber. Diese Stimmen lehnen eine Lohnfortzahlungspflicht ab. Zur Begründung wird angeführt, dass die Arbeitgeber nur in Gläubigerverzug kommen, wenn die Annahmeverweigerung ungerechtfertigt ist. Bei behördlich angeordneten Betriebsschliessungen zur Bekämpfung des Coronavirus bestehe ein objektiver Grund für die Annahmeverweigerung. Die Risikosphäre der Arbeitgeber sei nicht grenzenlos (STÉPHANIE PERRENOUD, in: Luc Thévenoz/Franz Werro [Hrsg.], Commentaire romand, Code des obligations I, 3. Auflage 2021, N. 8 zu Art. 324 OR; JEAN-PHILIPPE DUNAND/RÉMY WYLER, Quelques implications du coronavirus en droit suisse du travail, Newsletter DroitDuTravail.ch vom 9. April 2020, S. 3 ff.; THOMAS PIETRUSZAK, Lockdown und Lohnfortzahlung, in: Jusletter vom 14. April 2020, Rz. 13 ff.; IRÈNE SUTER-SIEBER, Lohn und Kurzarbeitsentschädigung während Kurzarbeit, in: Jusletter vom 18. Mai 2020, Rz. 7 ff.; ISABELLE WILDHABER, Das Arbeitsrecht in Pandemiezeiten, in: ZSR/RDS Band 139 (2020) Sondernummer „Pandemie und Recht“, S. 157 ff., S. 167 ff.; ALFRED BLESI/RENÉ HIRSIGER/THOMAS PIETRUSZAK, in: COVID-19 – Ein Panorama der Rechtsfragen zur Corona-Krise, 2020, § 2 Rz. 10 ff.; CLEMENS VON ZEDTZWITZ/SARAH KELLER, in: SHK – Stämpflis Handkommentar, Arbeitsvertrag, 2021, N. 28 zu Art. 324 OR; MARINA GRABER/CHRISTA KALBERMATTEN, Corona und Arbeitsrecht, in: Expert Focus 8/2020, S. 491 Ziff. 4.1.1; BETTINA MÜLLER, Rechte und Pflichten von Arbeitgebern im Hinblick auf das Epidemiengesetz, 2021, S. 78 f.). 

Geht es nach einem anderen Teil der Lehre, dann fallen behördliche Betriebsschliessungen in die Risikosphäre der Arbeitgeber, womit der Lohn nach Art. 324 Abs. 1 OR weiter geschuldet ist (JEAN CHRISTOPHE SCHWAAB, Der Arbeitnehmende in Quarantäne, in: ARV online 2020 Nr. 174, 2. Abschnitt; THOMAS GEISER, Arbeitsrechtliche Regelungen im Zusammenhang mit dem Coronavirus, AJP 2020, S. 545 ff., S. 550 f.; THOMAS GEISER/ROLAND MÜLLER/KURT PÄRLI, Klärung arbeitsrechtlicher Fragen im Zusammenhang mit dem Coronavirus, in: Jusletter vom 23. März 2020, Rz. 22 und 40 f.; KURT PÄRLI/JONAS EGGMANN, Corona und die Arbeitswelt, Bestandsaufnahme und Würdigung der aktuellen Rechtslage, in: Jusletter vom 8. Februar 2021, Rz. 30 ff.; EMANUEL GEORG TSCHANNEN, Das Corona-Massnahmenpaket des Bundesrats, Eine Würdigung aus arbeitsrechtlicher Perspektive, in: Jusletter vom 14. April 2020, Rz. 30 ff.; NATHALIE FLÜCK, Das Betriebsrisiko im Arbeitsverhältnis, 2021, S. 91 ff.). 

 

Kein Gläubigerverzug und keine Lohnfortzahlungspflicht

Das Bundesgericht schützte den Standpunkt der Arbeitgeberin. Sie war nach der Auffassung des Bundesgerichts nach der behördlichen Schliessung ihres Internatsbetriebs nicht zur Lohnfortzahlung verpflichtet.

5.1. Art. 324 OR ist von Bedeutung, wo es um die Rechtsfolge geht. Mit anderen Worten stellt Art. 324 OR nur in der Rechtsfolge eine lex specialis dar, und zwar zur allgemeinen Bestimmung von Art. 95 OR. Was den Tatbestand betrifft, greift die Bestimmung bloss auf Art. 91 OR zurück (PIETRUSZAK, a.a.O., Rz. 26; BLESI/HIRSIGER/PIETRUSZAK, a.a.O., § 2 Rz. 18; MÜLLER, a.a.O., S. 68).  

5.2. Der Gläubiger kommt in Verzug, wenn er die Annahme der gehörig angebotenen Leistung oder die Vornahme der ihm obliegenden Vorbereitungshandlungen, ohne die der Schuldner zu erfüllen nicht imstande ist, ungerechtfertigterweise verweigert (Art. 91 OR).  

In der Botschaft zu Art. 324 OR wird ausgeführt, in den meisten Fällen werde der Arbeitnehmer die Arbeitsleistung nicht erbringen können, weil den Arbeitgeber ein Verschulden trifft. Aus diesem Grund hebe der Entwurf diesen Tatbestand besonders hervor. Allerdings könne der Arbeitgeber auch aus anderen Gründen mit der Annahme der Arbeitsleistung in Verzug geraten. Denn nach Art. 91 OR setze der Gläubigerverzug kein Verschulden des Gläubigers voraus. Als ungerechtfertigt gelte die Annahmeverweigerung schon dann, wenn der Arbeitgeber sich nicht auf einen gesetzlich anerkannten Grund berufen könne (Botschaft vom 25. August 1967 zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Revision des Zehnten Titels und des Zehnten Titels bis des Obligationenrechts [BBl 1967 II 241 S. 330]). Das bedeutet im Umkehrschluss, dass es Fälle geben muss, in denen die Nichtannahme der Arbeitsleistung gerechtfertigt und der Arbeitgeber von der Lohnzahlung befreit ist. Der Gesetzgeber wollte offensichtlich nicht jedes beliebige Risiko, das nicht in der Sphäre des Arbeitnehmers liegt, unbesehen dem Arbeitgeber aufbürden (SUTER-SIEBER, a.a.O., Rz. 10). Dabei ist zu beachten, dass der Bundesrat in der Botschaft einen „gesetzlich anerkannten Grund“ erwähnt. Dies ist offensichtlich ein Versehen. Es muss ein „berechtigter Grund“ gemeint sein. Dies ergibt sich aus der französischen Fassung von Art. 91 OR, wonach der Gläubiger in Verzug kommt, wenn er die Annahme der gehörig angebotenen Leistung „sans motif légitime“ verweigert (vgl. auch SUTER-SIEBER, a.a.O. Fn. 11). 

In dieselbe Richtung geht ein Urteil des Obergerichts des Kantons Luzern vom 30. November 1998. Danach ist zu beachten, dass nach allgemeiner Regelung nur die ungerechtfertigte Annahmeverweigerung den Gläubigerverzug begründet. Bei der umstrittenen Grenzziehung zwischen gerechtfertigter und ungerechtfertigter Annahmeverweigerung gehe es darum, den angemessenen Umfang des Betriebsrisikos zu bestimmen, für das der Arbeitgeber einzustehen habe. Seien nämlich die Folgen von Leistungsstörungen ein Ausfluss des Betriebsrisikos, das der Arbeitgeber tragen müsse, dann sei der Verzug im Sinne von Art. 324 OR ungerechtfertigt. Habe hingegen der Arbeitgeber für die Leistungsstörung nicht einzustehen, weil sie ausserhalb seines Betriebsrisikos liege, dann sei sein Verhalten gerechtfertigt und er müsse keinen Lohn zahlen (JAR 1999, S. 158 ff.). 

5.3. Nach dem Gesagten tritt der Annahmeverzug nur ein, wenn das Verhalten des Arbeitgebers nicht gerechtfertigt ist. An einer Rechtfertigung fehlt es, wenn kein objektiver Grund gegeben ist, der alle trifft (PERRENOUD, a.a.O., N. 6 zu Art. 324 OR; MARIUS SCHRANER, Zürcher Kommentar, Band V/1e: Die Erfüllung der Obligationen, Art. 68-96 OR, 3. Auflage, Zürich 2000, N. 113, 125 zu Art. 91 OR; MÜLLER, a.a.O., S. 68).  

Ein objektiver Grund, der den Gläubigerverzug ausschliesst, wurde beispielsweise bejaht, als der Gläubiger wegen Kriegswirren und kriegswirtschaftlicher Massnahmen gewisse Vorbereitungshandlungen nicht treffen konnte (BGE 63 II 226). Ferner durfte ein Gläubiger die angebotene Leistung zurückweisen, da sie an seinem Wohnort zu erfüllen war und dort ein Einfuhrverbot bestand (BGE 44 II 407 E. 1). Ein objektiver Grund wird auch bejaht, wenn sich der Gläubiger mit der Annahme der Leistung unzumutbarer rechtlicher Risiken aussetzen würde. Keine Rechtfertigung im Sinne von Art. 91 OR sind demgegenüber persönliche Gründe auf Seiten des Gläubigers (SCHRANER, a.a.O., N. 128 zu Art. 91 OR). 

5.4. Im arbeitsrechtlichen Kontext ist im Zusammenhang mit dem Annahmeverzug des Arbeitgebers häufig vom Betriebsrisiko die Rede. Unbestrittenermassen gilt der Grundsatz, dass der Arbeitgeber das Betriebsrisiko zu tragen hat (BGE 124 III 346 E. 2.a). Der Begriff des Betriebsrisikos ist indessen gesetzlich nicht definiert. In der Regel sind damit Umstände gemeint, die in die Risikosphäre des Arbeitgebers und nicht des Arbeitnehmers fallen und keine objektiven Gründe im Sinne von Art. 91 OR sind. Ob ein Umstand in das Betriebsrisiko des Arbeitgebers fällt, muss im Einzelfall bestimmt werden. Insbesondere ist danach zu fragen, ob es sich – in der Terminologie von Art. 91 OR – um einen persönlichen Grund auf Seiten des Arbeitgebers oder um einen objektiven Grund handelt (PIETRUSZAK, a.a.O., Rz. 23).  

Die Betriebsschliessungen zur Bekämpfung des Coronavirus sind als objektive Gründe im Sinne von Art. 91 OR zu qualifizieren. Denn sie trafen alle und sind vergleichbar mit den vorstehend erwähnten Umständen, bei denen ein objektiver Grund bejaht wird. Insbesondere hätte sich ein Arbeitgeber unzumutbarer rechtlicher Risiken ausgesetzt, wenn er seinen Betrieb in Verletzung der COVID-19-Verordnung 2 aufrechterhalten hätte (PIETRUSZAK, a.a.O., Rz. 24). Arbeitgeber, die ihren Betrieb zur Bekämpfung des Coronavirus schliessen mussten, befanden sich gegenüber den betroffenen Arbeitnehmern somit nicht im Annahmeverzug. Folglich ist der Tatbestand von Art. 324 Abs. 1 OR nicht erfüllt und keine Lohnfortzahlung geschuldet (PIETRUSZAK, a.a.O., Rz. 25). Die französischsprachige Lehre spricht von Fällen „de force majeure qui nécessitent l’adoption de mesures collectives“. Sie hat dabei Konstellationen im Auge, welche die ganze Wirtschaft oder grosse Teile davon betreffen (PERRENOUD, a.a.O., N. 8 zu Art. 324 OR; DUNAND/WYLER, a.a.O., S. 4). 

5.5. Das deutsche Recht enthält eine ähnliche Norm wie Art. 324 Abs. 1 OR. Es bestimmt in § 615 BGB mit dem Randtitel „Vergütung bei Annahmeverzug und bei Betriebsrisiko“ was folgt: „Kommt der Dienstberechtigte mit der Annahme der Dienste in Verzug, so kann der Verpflichtete für die infolge des Verzugs nicht geleisteten Dienste die vereinbarte Vergütung verlangen, ohne zur Nachleistung verpflichtet zu sein. Er muss sich jedoch den Wert desjenigen anrechnen lassen, was er infolge des Unterbleibens der Dienstleistung erspart oder durch anderweitige Verwendung seiner Dienste erwirbt oder zu erwerben böswillig unterlässt. Die Sätze 1 und 2 gelten entsprechend in den Fällen, in denen der Arbeitgeber das Risiko des Arbeitsausfalls trägt.“  

Mit Urteil vom 13. Oktober 2021 hielt der Fünfte Senat des deutschen Bundesarbeitsgerichts in der Streitsache „5 AZR 211/21“ fest, dass eine Betriebsschliessung zur Bekämpfung des Coronavirus kein Fall des vom Arbeitgeber nach § 615 Satz 3 BGB zu tragenden Betriebsrisikos sei. Zur Begründung wurde insbesondere angeführt, der Arbeitgeber trage das Risiko des Arbeitsausfalls nicht, wenn die behördliche Betriebsschliessung betriebsübergreifend erfolge und nahezu flächendeckend alle nicht für die Versorgung der Bevölkerung notwendigen Einrichtungen geschlossen werden. In einem solchen Fall realisiere sich gerade nicht ein in einem bestimmten Betrieb aufgrund seiner konkreten Produktions- und Arbeitsbedingungen angelegtes Risiko. Die Unmöglichkeit der Arbeitsleistung sei vielmehr Folge eines hoheitlichen Eingriffs zur Bekämpfung einer allgemeinen Gefahrenlage, die der einzelne Arbeitgeber auch nicht im weitesten Sinne verursacht und zu verantworten habe. Dieses allgemeine Risiko, das Folge letztlich politischer Entscheidungen zur Eindämmung des Infektionsrisikos sei, müsse der Arbeitgeber nicht tragen. Für die Zurechnung des Betriebsrisikos in diesen Fällen genüge nicht einmal eine Publikumsaffinität eines Betriebs. Vielmehr müsse eine objektive Verantwortung für die Verbreitung des fraglichen Krankheitserregers in besonderer Weise begünstigenden Arbeits- und Produktionsbedingungen in dem betroffenen Betrieb hinzukommen. Lägen diese Voraussetzungen nicht vor, sei es Sache des Staats, gegebenenfalls für einen angemessenen Ausgleich der den Arbeitnehmern durch den hoheitlichen Eingriff entstehenden finanziellen Nachteile zu sorgen (vgl. dort Rz. 34). 

Diese Überlegungen lassen sich auf die Schweiz übertragen. Auch hier lag es am Bund, für einen angemessenen Ausgleich der den Arbeitnehmern durch den hoheitlichen Eingriff entstehenden finanziellen Nachteile zu sorgen. Es ist nicht Sache der Arbeitgeber, Lücken zu füllen, wenn Arbeitnehmer von den staatlichen Entschädigungen ausgeschlossen sind. 

5.6. Die Vorinstanzen verweisen auf eine Publikation des Staatssekretariats für Wirtschaft SECO, wonach die Arbeitnehmer bei einer behördlichen Betriebsschliessung einen Anspruch auf Lohnfortzahlung haben sollen, da das Betriebs- und Wirtschaftsrisiko bei den Arbeitgebern liegt, auch wenn sie dies stark belasten könne (Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, FAQs „Pandemie und Betriebe“, Frage 19).  

Die Beschwerdeführerin weist zu Recht darauf hin, dass die Vorinstanzen dieser Meinungsäusserung übermässig Gewicht beimessen. Das SECO ist das Kompetenzzentrum des Bundes für die Kernfragen der Wirtschaftspolitik. Sein Ziel ist es, für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum, eine hohe Beschäftigung sowie faire Arbeitsbedingungen zu sorgen. Seine Direktion für Arbeit sorgt für klare Regeln in der Arbeitsmarktpolitik. Dazu gehören unter anderem der Arbeitnehmerschutz, die Arbeitslosenversicherung, die Arbeitsvermittlung und die Gewährleistung der Personenfreizügigkeit. Zur Auslegung des privaten Arbeitsrechts ist aber allein die I. zivilrechtliche Abteilung des Bundesgerichts berufen. Auch die kantonalen Zivilgerichte sind nicht an die Meinung des SECO gebunden. 

5.7. Als Beispiel für ein Betriebsrisiko, welches der Arbeitgeber zu tragen hat, wird in der Lehre eine Landestrauer genannt (VON ZEDTZWITZ/ KELLER, a.a.O., N. 11 zu Art. 324 OR). Die Beschwerdegegner bringen sinngemäss vor, die Betriebsschliessung zur Bekämpfung des Coronavirus sei vergleichbar mit einer Arbeitsruhe wegen Landestrauer. Tatsächlich haben diese beiden Risiken gemein, dass sie auf behördliche Anordnungen zurückgehen, die alle Betriebe gleichermassen treffen und von den Arbeitgebern nicht antizipiert werden können. Allerdings hält die Beschwerdeführerin zu Recht entgegen, dass eine Landestrauer höchstens zu einer Arbeitsruhe von wenigen Tagen führen würde. Demgegenüber erfolgten die Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus wiederholt für mehrere Wochen. Dieses Risiko ist nicht vergleichbar mit einer kurzen Arbeitsruhe wegen Landestrauer.  

Ohnehin hat sich das Bundesgericht nie zur rechtlichen Einordnung einer allfälligen Landestrauer geäussert. Sie wird nur von einzelnen Lehrstimmen beispielhaft erwähnt. Auch rechtsvergleichend bestehen kaum Präjudizien für diesen Fall. In Deutschland befand das Reichsarbeitsgericht am 27. März 1935 über die Lohnzahlung an Musiker, die wegen der Landestrauer nach dem Tod des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg nicht auftreten konnten. Es hielt fest, zum Betriebsrisiko zählten Ereignisse, „die den Weiterbestand des Betriebes nicht in Frage stellen, sondern nur die regelmässige Fortführung vorübergehend beeinträchtigen, die im Einzelfall vielleicht nicht vermeidbar waren, mit denen aber doch der Unternehmer im allgemeinen rechnen und deren wirtschaftliche Nachteile er in seine Kostenrechnung einstellen kann“ (RAG 235/34 – ARS 23, 219). 

5.8. Als weitere Beispiele für Betriebsrisiken des Arbeitgebers werden im Schrifttum das staatliche Herstellungsverbot, der Entzug einer Betriebsbewilligung oder die Verweigerung einer Arbeitsbewilligung erwähnt (ADRIAN STAEHELIN, Der Arbeitsvertrag, Art. 319-330a OR, Zürcher Kommentar Band/Nr. V/2c, 4. Auflage 2006, N. 12 zu Art. 324 OR; VON ZEDTZWITZ/KELLER, a.a.O., N. 11 zu Art. 324 OR; WOLFGANG PORTMANN/ ROGER RUDOLPH, in: Basler Kommentar, Schweizerisches Obligationenrecht I, 7. Aufl. 2020, N. 4 zu Art. 324 OR).  

Darauf berufen sich die Beschwerdegegner. Es trifft zu, dass diese Beispiele, wie die Betriebsschliessungen, auf einen behördlichen Entscheid zurückgehen. Im Übrigen bestehen erhebliche Unterschiede. So richten sich das Herstellungsverbot und die Verweigerung der genannten Bewilligungen individuell gegen einzelne Betriebe, wenn sie konkrete Bedingungen nicht erfüllen. Demgegenüber trafen die Betriebsschliessungen zur Bekämpfung des Coronavirus jeden Arbeitgeber einer gewissen Branche unbesehen seiner individuellen Lage gleichermassen. Damit gingen sie über das Risiko hinaus, das einem einzelnen Betrieb inhärent ist. 

5.9. Die Beschwerdegegner werfen der Beschwerdeführerin vor, sie habe sich nicht angemessen auf die Pandemie vorbereitet. Diesen Vorwurf stützen sie auf eine Lehrmeinung, wonach „die Betriebe gestützt auf das Epidemiengesetz verpflichtet sind, sich auf Epidemien vorzubereiten“ (GEISER/MÜLLER/PÄRLI, a.a.O., Rz. 22; vgl. auch PÄRLI/ EGGMANN, a.a.O., Rz. 31 Fn. 53). Die Beschwerdeführerin wendet zu Recht ein, dass die zitierten Autoren die behauptete gesetzliche Verpflichtung nicht belegen.  

Gemäss Botschaft vom 3. Dezember 2010 regelt das Epidemiengesetz die Kompetenzen der Behörden und verbessert die Arbeitsteilung zwischen Bund und Kantonen. Der Bund erhält mehr Verantwortung für die Erarbeitung und Umsetzung von gesamtschweizerischen, strategischen Zielvorgaben und ihm wird sowohl in Normalzeiten als auch in besonderen Lagen eine stärkere Koordinations- und Aufsichtsfunktion übertragen. Zwar werden die Prinzipien der Selbstbestimmung und Eigenverantwortung der Einzelnen verankert. Doch geht es im Kern um die Grundlagen für eine sinnvolle Arbeitsteilung zwischen Bund und Kantonen. Diese werden zum Schutz der öffentlichen Gesundheit verpflichtet, bestimmte Massnahmen zu treffen (BBl 2011 311, S. 312 f.). 

Wie die Beschwerdeführerin zu Recht erwähnt, sind für die Erkennung und Überwachung (Art. 11 EpG) sowie für allgemeine Verhütungsmassnahmen (Art. 19 EpG) die Behörden verantwortlich. Adressaten der epidemiengesetzlichen Präventionsmassnahmen sind der Bund und die Kantone, nicht aber die Arbeitgeber. Das Epidemiengesetz enthält keine Bestimmung, die den Arbeitgebern eine spezifische Pflicht im Zusammenhang mit einer drohenden Epidemie auferlegen würde. Der Bundesrat kann Betriebe und Veranstalter, die mit ihren Aktivitäten das Risiko der Krankheitsübertragung erhöhen, dazu verpflichten, Präventions- und Informationsmaterial bereitzustellen und bestimmte Verhaltensregeln einzuhalten (Art. 19 Abs. 2 lit. b EpG). Oder er kann öffentliche und private Institutionen, die eine besondere Pflicht zum Schutz der Gesundheit von Menschen haben, die in ihrer Obhut sind, zur Durchführung geeigneter Verhütungsmassnahmen verpflichten (Art. 19 Abs. 2 lit. d EpG). Hingegen ist im Epidemiengesetz keine Pflicht zur Vorbereitung auf Pandemien vorgesehen. Auch aus dem Pandemieplan des Bundesamts für Gesundheit (BAG) ergibt sich nichts dergleichen. Die Unternehmen sollen sich lediglich mit Massnahmen beschäftigen, um im Pandemiefall die Mitarbeitenden vor Ansteckungen zu schützen und den Betrieb aufrecht zu erhalten (WILDHABER, a.a.O., S. 168). Gemäss Verordnung über den Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor Gefährdung durch Mikroorganismen (SAMV; SR 832.321) mögen Betriebe verpflichtet sein, Massnahmen zum Schutz der Arbeitnehmer beim Umgang mit Mikroorganismen und bei der Exposition gegenüber Mikroorganismen zu treffen. Daraus kann aber nicht hergeleitet werden, dass eine weltweite Pandemie zum Betriebsrisiko gehört (PIETRUSZAK, a.a.O., Rz. 17). 

5.10. Es ist umstritten, ob das Kriterium der Vorhersehbarkeit eines Arbeitsausfalls überhaupt brauchbar ist zur Beurteilung der Lohnfortzahlungspflicht gemäss Art. 324 OR. Denn es ist im zivilrechtlichen Kontext von Art. 91 OR nicht vorgesehen und offenbar dem Sozialversicherungsrecht entliehen (PIETRUSZAK, a.a.O., Rz. 18; SUTER-SIEBER, a.a.O. Fn. 13).  

Dennoch wird in der Lehre zur Begründung für eine Lohnfortzahlungspflicht der Arbeitgeber vorgebracht, dass es sich bei der Covid-19-Pandemie „um eine vorhersehbare Entwicklung handelt, welche grundsätzlich in die Risikosphäre der Arbeitgeber fällt“ (GEISER/MÜLLER/PÄRLI, a.a.O., Rz. 92). Diese Argumentation überzeugt nicht, selbst wenn man auf die Vorhersehbarkeit abstellen will. Zwar mag zutreffen, dass bereits früher Epidemien auftraten und dass die zunehmende globale Mobilität die Ausbreitung von Infektionskrankheiten begünstigt (PÄRLI/ EGGMANN, a.a.O., Rz. 37). Doch ändert dies nichts daran, dass die Covid-19-Pandemie plötzlich und unerwartet kam. Noch anfangs Februar 2020 wurde das Coronavirus als lokales Problem in China betrachtet. Der Dow Jones Industrial Average (Dow-Jones-Index) verzeichnete am 12. Februar 2020 einen historischen Höchststand; gleiches gilt für den Swiss Market Index (SMI) am 20. Februar 2020. Der Internationale Währungsfonds prognostizierte der Weltwirtschaft für 2020 ein Wachstum von 3.3 %, die Expertengruppe des Bundes erwartete in der Schweiz ein Wachstum des Bruttoinlandprodukts von 1.7 % (vgl. PIETRUSZAK, a.a.O., Rz. 16 mit Hinweisen). 

 

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Autor: Nicolas Facincani

 

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