Im Urteil 4A_180/2020  vom 6. Juli 2020 stellte das Bundesgericht klar, dass es nicht zulässig sei, ohne die Zustimmung beider Parteien die Hauptverhandlung per Video durchzuführen. Dem ist auch in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten zu folgen.

 

Folgendes war dem Urteil 4A_180/2020  vom 6. Juli 2020 vorausgegangen:

Mit Klage vom 28. Mai 2018 leitete die Klägerin ein Verfahren gegen die Beklagte beim Handelsgericht des Kantons Zürich ein. Sie beantragte die Aushändigung von Namenaktien beziehungsweise eines Zertifikats über das Eigentum an Namenaktien einer Gesellschaft.

Nach Durchführung einer Vergleichsverhandlung, anlässlich welcher keine Einigung erzielt wurde, reichten die Parteien Replik und Duplik sowie (die Klägerin) eine weitere Stellungnahme ein. Mit Eingabe vom 31. Januar 2020 teilte die Gesellschaft mit, dass sie die Durchführung einer mündlichen Hauptverhandlung verlange. Am 20. Februar 2020 wurden die Parteien zur Hauptverhandlung vom 7. April 2020 vorgeladen.

Mit Schreiben vom 24. März 2020 gab die Vizepräsidentin des Handelsgerichts bekannt, dass die Hauptverhandlung im Rahmen einer Videokonferenz stattfinden werde. Sie hielt die „Vertreter und Parteien, die an der Hauptverhandlung von ihrem jeweiligen Standort aus teilnehmen“, an, auf deren Mobiltelefonen die „Gratisapp ‚ZOOM Cloud Meetings'“ zu installieren, sich zu registrieren und dem Handelsgericht bis am 31. März 2020 schriftlich die Mobiltelefonnummern mitzuteilen. Sollte – so die Vizepräsidentin weiter – diese Mitteilung unterbleiben, werde „bezüglich der Hauptverhandlung“ von Säumnis ausgegangen. Einige Tage vor der Verhandlung werde das Handelsgericht mit den beteiligten Anwälten einen kurzen Test beziehungsweise eine Instruktion durchführen. Allfällige Plädoyernotizen seien zu Beginn der Verhandlung per E-Mail an den zuständigen Gerichtsschreiber, an den Instruktionsrichter sowie an die Gegenpartei zu senden. Es bestehe weiterhin die Möglichkeit, nachträglich noch auf die Durchführung der Hauptverhandlung zu verzichten.

Am 30. März 2020 ersuchte die Gesellschaft um Absage und Verschiebung der Hauptverhandlung vom 7. April 2020. Sie erklärte, mit der Durchführung der mündlichen Hauptverhandlung via Videokonferenz nicht einverstanden zu sein. Dieses Gesuch wurde abgelehnt und die Hauptverhandlung durchgeführt.

 

Begründung des Handelsgerichts

Die Vizepräsidentin des Handelsgerichts erwog im Schreiben vom 24. März 2020, angesichts der „gravierenden Pandemie-Notlage“, deren Ende nicht absehbar sei, und der „zentralen Bedeutung einer weiterhin funktionierenden Justiz“ für Bevölkerung und Wirtschaft lasse sich die Anordnung, die Hauptverhandlung im Rahmen einer Videokonferenz durchzuführen, auf „Richterrecht“ stützen. Sie verwies auf Art. 1 Abs. 2 ZGB „analog“ sowie Art. 52 ZPO.

Immerhin – so die Vizepräsidentin weiter – sehe die Zivilprozessordnung die Aufzeichnung von Verhandlungen mittels „Video oder anderen geeigneten technischen Hilfsmitteln“ in Art. 235 Abs. 2 Satz 2 ZPO (ferner: Art. 176 Abs. 2 ZPO) ausdrücklich vor. „Mit Blick auf die richterrechtliche Lückenfüllung“ sei weiter zu beachten, dass die Zivilprozessordnung bewusst nach dem Grundsatz „Mut zur Lücke“ konzipiert sei, um „der Praxis den nötigen Spielraum“ zu verschaffen. Auch „der Fortbildung des Rechts [sei] Raum zu geben“. Die Strafprozessordnung, die – verglichen mit der Zivilprozessordnung – generell eine detailliertere Regelung anstrebe, sehe in Art. 144 eine einseitig angeordnete Videokonferenz sogar ausdrücklich vor. Zwar gelte diese Regelung nur bei Einvernahmen. Sie zeige aber, dass seitens des Gesetzgebers „keine Einwände grundsätzlicher Art“ gegen Videokonferenzen bestünden.

Die geringfügige Einbusse an Unmittelbarkeit sei unter den „vorliegenden pandemischen Umständen“ verhältnismässig. Entsprechendes gelte auch „für allfällige Sicherheitsbedenken“, zumal die Verhandlung ohnehin „öffentlich“ sei. Dabei werde dem Öffentlichkeitsgrundsatz nach Ansicht des Notfallstabs des Obergerichts des Kantons Zürich hinreichend Rechnung getragen, wenn akkreditierten Medienschaffenden die Möglichkeit geboten werde, der Videoübertragung zu folgen.

Die Vizepräsidentin wies abschliessend darauf hin, dass sich die Terminfindung mit den Parteien als „ausserordentlich zeitraubend“ erwiesen habe und auch aus diesem Grund eine Verschiebung „von derzeit noch unbekannter Dauer“ angesichts des Beschleunigungsgebots unverhältnismässig sei (alles gemäss Urteil 4A_180/2020  vom 6. Juli 2020).

 

Erwägungen des Bundesgerichts

Das Bundesgericht teilte die Auffassung des Handelsgerichts nicht.

Das Bundesgericht verwies unter anderem auf die Entstehungsgeschichte der ZPO hin: In seiner Botschaft vom 28. Juni 2006 zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (nachfolgend: Botschaft ZPO), BBl 2006 7252 Ziff. 4.2, habe der Bundesrat ausgeprägte internationale „Bemühungen um Rechtsverkehr auf elektronischem Weg“ festgestellt. Der Entwurf der Zivilprozessordnung nehme – so heisst es in der Botschaft – diese „Tendenz“ auf und setze „die erforderlichen Leitplanken für die weitere Entwicklung“. Der Bundesrat habe sich auch ausführlich auf den (damaligen) Vorschlag der Kommission der Europäischen Gemeinschaft zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen bezogen. Er habe darauf hingewiesen, dass dieser Vorschlag die Zustellung von Schriftstücken per E-Mail und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung mittels „Audio-, Video- oder E-Mail-Konferenz“ erlaube (Botschaft ZPO, BBl 2006 7251 Ziff. 4.2). Diese Möglichkeiten hat der Gesetzgeber also bedacht, dann aber nicht in die Zivilprozessordnung aufgenommen; sie sind in der Schweiz nicht Gesetz geworden.

 

Sodann verwies das Bundesgericht auf laufende Gesetzgebungsprojekte:

Der Bundesrat regt im Rahmen seines Entwurfs vom 26. Februar 2020 betreffend die Änderung der Schweizerischen Zivilprozessordnung (Verbesserung der Praxistauglichkeit und der Rechtsdurchsetzung) an, die Einvernahmen von Zeugen, die Erstattung von Gutachten sowie die Parteibefragungen und Beweisaussagen „neu“ mittels Videokonferenz möglich zu machen (vgl. Art. 170a, Art. 187 Abs. 1 Satz 3, Art. 187 Abs. 2 und Art. 193 E-ZPO [BBl 2020 2789 f.]). Er sieht angesichts der „stetig zunehmenden technischen Möglichkeiten und ihrer Verbreitung sowie der parallel zunehmenden Internationalität fast sämtlicher Lebensbereiche und damit auch der an einem Zivilverfahren beteiligten Personen“ Bedarf für eine solche Regelung. Ein spezifisches Bedürfnis dafür bestehe insbesondere im Zusammenhang mit den laufenden Bestrebungen zur Positionierung der Schweiz als internationaler Justizplatz (Botschaft vom 26. Februar 2020 zur Änderung der Schweizerischen Zivilprozessordnung [Verbesserung der Praxistauglichkeit und der Rechtsdurchsetzung], BBl 2020 2718 f. Ziff. 4.1.6 und 2750 zu Art. 170a). 

 

Sodann werfe der Einsatz verschieden Fragen auf:

Die Durchführung einer Hauptverhandlung in Form einer Videokonferenz wirft verschiedene rechtliche und praktische Fragen auf; dies jedenfalls dann, wenn alle Verfahrensbeteiligten – wie vorliegend – „von ihrem jeweiligen Standort aus über ihre Mobiltelefone“ teilnehmen sollen. So fragt sich, wie die Öffentlichkeit des Verfahrens (Art. 54 ZPO) sichergestellt wird und wie die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten gewahrt werden können. Es sind datenschutz- und datensicherheitsrechtliche Vorgaben zu beachten. Ferner werden sich säumnisrechtliche Fragen stellen, wenn die Videokonferenz nicht zustande kommt oder die technische Verbindung abbricht (oder – was davon nicht immer unterscheidbar sein dürfte – von einem Teilnehmer absichtlich abgebrochen wird; vgl. Art. 234 ZPO). Hält sich eine Partei im Ausland auf, sind rechtshilferechtliche Bestimmungen einzuhalten. Auch ist diskutiert worden, wie sich die Durchführung einer Verhandlung mittels Videokonferenz zum Anspruch der Parteien auf gleiche und gerechte Behandlung (vgl. Art. 29 Abs. 1 BV sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK [droit à un procès équitable]) und zum „Unmittelbarkeitsprinzip“ verhält (siehe BOHNET/MARIOT, a.a.O., S. 183-185 und S. 192 f.; KETTIGER, a.a.O., Rz. 9 f.).

 

Fazit:

Das Mittel der Videokonferenz in der Zivilprozessordnung sei nicht vorgesehen. Das Vorgehen der Vizepräsidentin des Handelsgerichts entbehrt gemäss dem Bundesgericht mithin der gesetzlichen Grundlage.

 

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Autor: Nicolas Facincani