Auch die strafrechtlichen Abteilungen des schweizerischen Bundesgerichts haben sich hin und wieder mit dem Arbeitsrecht auseinanderzusetzen. So etwa die 1. strafrechtliche Abteilung im Entscheid 6B_1058/2022, 6B_1072/2022 vom 29. Januar 2024. als es einen tödlichen Arbeitsunfall als fahrlässige Tötung qualifizierte.

 

Das Bundesgericht zu den Arbeitgeberpflichten

Im Zusammenhang mit der Frage, ob im konkreten Fall Pflichten zur Unfallverhütung verletzt wurden, führte das Bundesgericht das Folgende aus:

3.4. Die Pflichten zum Schutz der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz bzw. zur Unfallverhütung ergeben sich unter anderem aus Art. 328 Abs. 2 OR, Art. 82 des Bundesgesetzes vom 20. März 1981 über die Unfallversicherung (UVG; SR 832.20) und der Verordnung vom 19. Dezember 1983 über die Verhütung von Unfällen und Berufskrankheiten (VUV; SR 832.30). Darüber hinaus sind die gestützt auf Art. 83 UVG erlassenen Ausführungsvorschriften des Bundesrates und die übrigen Richtlinien zu beachten, welche die Pflicht des Arbeitgebers konkretisieren und für einzelne Arbeitsbereiche mit erhöhtem Gefahrenpotenzial zum Teil besonders umschreiben. Wird gegen eine solche Vorschrift verstossen, liegt darin zugleich ein Indiz für die Missachtung der Sorgfaltspflicht im Sinne von Art. 12 Abs. 3 StGB (BGE 114 IV 173 E. 2a; Urteile 6B_1201/2022 vom 3. April 2023 E. 2.1.2; 6B_217/2022 vom 15. August 2022 E. 2.3; 6B_435/2015 vom 16. Dezember 2015 E. 5.1.1; je mit Hinweis).  

Nach Art. 328 Abs. 2 OR hat der Arbeitgeber die zum Schutz von Leben und Gesundheit des Arbeitnehmers notwendigen Massnahmen zu treffen. Hierzu gehört auch, dass er vom Arbeitnehmer die Einhaltung von Sicherheitsvorschriften verlangt und dies in angemessener Weise kontrolliert und notfalls durchsetzt (vgl. Art. 6 Abs. 3 VUV; Urteile 6B_197/2021 vom 28. April 2023 E. 3.3.2; 6B_47/2021 vom 22. März 2023 E. 5.1.1; 6B_958/2020 vom 22. März 2021 E. 3.3.3; je mit Hinweisen). 

Nach Art. 3 Abs. 1 VUV hat der Arbeitgeber zur Wahrung und Verbesserung der Arbeitssicherheit alle Anordnungen zu erteilen und Schutzmassnahmen zu treffen, die den Vorschriften dieser Verordnung sowie den anerkannten sicherheitstechnischen und arbeitsmedizinischen Regeln entsprechen. Gemäss Art. 6 Abs. 1 VUV muss der Arbeitgeber dafür sorgen, dass alle in seinem Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer, einschliesslich der dort tätigen Arbeitnehmer eines anderen Betriebs, ausreichend und angemessen informiert und angeleitet werden über die bei ihren Tätigkeiten auftretenden Gefahren sowie über die Massnahmen der Arbeitssicherheit. Diese Informationen und Anleitungen haben zum Zeitpunkt des Stellenantritts sowie bei jeder wesentlichen Änderung der Arbeitsbedingungen zu erfolgen und sind nötigenfalls zu wiederholen (Urteile 6B_197/2021 vom 28. April 2023 E. 3.3.2; 6B_47/2021 vom 22. März 2023 E. 5.1.1).

Spezifisch zu Hubarbeitsbühnen äusserte sich das Bundesgericht im Urteil 6B_1058/2022, 6B_1072/2022 vom 29. Januar 2024 wie folgt:

4.2.3. Gestützt auf Art. 85 UVG i.V.m. Art. 52a Abs. 1 VUV kann die Eidgenössische Koordinationskommission für Arbeitssicherheit (EKAS) zur Gewährleistung einer einheitlichen und sachgerechten Anwendung der Vorschriften über die Arbeitssicherheit Richtlinien aufstellen. Befolgt der Arbeitgeber solche Richtlinien, so wird vermutet, dass er diejenigen Vorschriften über die Arbeitssicherheit erfüllt, welche durch die Richtlinien konkretisiert werden (Art. 52a Abs. 2 VUV). Der Arbeitgeber kann die Vorschriften über die Arbeitssicherheit auf andere Weise erfüllen, als dies die Richtlinien vorsehen, wenn er nachweist, dass die Sicherheit der Arbeitnehmer gleichermassen gewährleistet ist (Art. 52a Abs. 3 VUV).  

Die für die Arbeit mit Hebe- bzw. Hubarbeitsbühnen relevanten Pflichten werden vorliegend unter anderem durch die Suva-Checklisten „Hubarbeitsbühnen Teil 1: Planung des Einsatzes“ (Nr. 67064-1.d) und „Hubarbeitsbühnen Teil 2: Kontrolle am Einsatzort“ (Nr. 67064-2.d) konkretisiert. Gemäss Anhang I der Richtlinie Nr. 6508 der EKAS über den Beizug von Arbeitsärzten und anderen Spezialisten der Arbeitssicherheit zählen Arbeiten mit technischen Einrichtungen und Geräten gemäss Art. 49 Abs. 2 VUV zu Arbeiten mit besonderen Gefährdungen. In der Aufzählung von Art. 49 Abs. 2 VUV werden in Ziff. 2 und 5 auch Hebe- bzw. Hubarbeitsbühnen genannt. Nach Ziff. 5.5 der EKAS-Richtlinie Nr. 6512 ist eine Ausbildung zur Verwendung von Arbeitsmitteln notwendig, wenn mit den dabei auszuführenden Arbeiten besondere Gefahren verbunden sind. 

Gestützt darauf ging gemäss Bundesberiht die Vorinstanz zu Recht davon aus, eine Ausbildung zur Bedienung von Hebe- und Hubarbeitsbühnen sei obligatorisch. Es werde in den zwei Checklisten der Suva ausdrücklich darauf hingewiesen, dass eine dokumentierte, theoretische und praktische Grundausbildung für die verwendete Hubarbeitsbühnen-Kategorie erforderlich ist. Gemäss Bundesgericht müsse zwar beachtet werden, dass die Nichteinhaltung einer Richtlinie nicht automatisch zur Folge hat, dass die gebotene Sorgfaltspflicht nicht eingehalten wurde; jedoch liegt im Verstoss gegen eine solche Richtlinie ein Indiz für die Missachtung der Sorgfaltspflicht im Sinne von Art. 12 Abs. 3 StGB. Im Gegenzug würde die Beachtung der entsprechenden Vorschriften dem Arbeitgeber die Vermutung verleihen, dass er die Sicherheitsanforderungen nach UVG und VUV erfülle.

 

Sachverhalt

Das Opfer, damals noch wohnhaft in Frankreich, habe Anfang Juni 2019 mit dem Beschwerdeführer 1 Kontakt aufgenommen und sich erkundigt, ob dieser für ihn in der Schweiz Arbeit habe. Daraufhin habe dieser beim Beschwerdeführer 2, Geschäftsführer der E.________ AG, nachgefragt, ob die Firma für seinen Cousin, das Opfer, Arbeit habe. Der Beschwerdeführer 1 habe dabei angegeben, das Opfer sei wie ein Bruder für ihn; er könne für ihn als loyalen Mitarbeitenden bürgen. Der Beschwerdeführer 2 habe dem Beschwerdeführer 1 vertraut und entschieden, das Opfer als Hilfsarbeiter einzustellen. Vor der Anstellung seien vom Opfer die für eine Arbeitsbewilligung erforderlichen Dokumente verlangt worden; weitere Abklärungen über seine Ausbildungen, insbesondere in Bezug auf den Umgang mit Hubarbeitsbühnen, seien von keinem der Beschwerdeführer vorgenommen worden. Auch seien keine entsprechenden Nachweise verlangt worden. Der Beschwerdeführer 2, obwohl er nicht über die konkreten Einsätze des Opfers informiert gewesen sei, habe zum Zeitpunkt von dessen Anstellung zumindest davon ausgehen müssen, dass dieser für Arbeiten mit Hubarbeitsbühnen eingesetzt werde. Dies ergebe sich einerseits aus der Information des Beschwerdeführers 1, das Opfer verfüge aus Frankreich über Erfahrung mit Hubarbeitsbühnen; andererseits habe der Beschwerdeführer 2 selbst nicht ausgeschlossen, dass auch Hilfsarbeiter für Arbeiten mit Hubarbeitsbühnen eingesetzt würden. Ferner sei zum Zeitpunkt der Anstellung des Opfers „Fassadensaison“ gewesen, was bedeute, dass ca. 90 % der Arbeiten, die das Team des Beschwerdeführers 1 zu erledigen gehabt habe, mit Hubarbeitsbühnen auszuführen seien, weshalb ein entsprechender Einsatz auch naheliegend gewesen sei. Hingegen hätten der Beschwerdeführer 2 zum Zeitpunkt der Einstellung des Opfers und der Beschwerdeführer 1 zum Zeitpunkt dessen Einsatzes nach dem Grundsatz in dubio pro reo nicht um das Ausbildungsobligatorium für das Arbeiten mit Hubarbeitsbühnen gewusst.

Weiter erwägt die Vorinstanz, das Opfer habe am 26. oder 27. August 2019 seinen ersten Arbeitstag für die E.________ AG gehabt, an welchem der Beschwerdeführer 1 es für die Arbeit auf einer Hubarbeitsbühne des Typs Mobil Vertikal instruiert habe. Anschliessend habe das Opfer während einer Woche mit besagter Hubarbeitsbühne gearbeitet und Reinigungsarbeiten vorgenommen. Am 4. September 2019 habe der Beschwerdeführer 1 das Opfer für eine andere Hubarbeitsbühne des Typs Mobil Verikal von Haulotte, Modell Optimum 8, instruiert und es auf dem Gelände der F.________ AG im ersten Untergeschoss wiederum Reinigungsarbeiten durchführen lassen. Um 16.00 Uhr habe der Beschwerdeführer 1 das Gelände verlassen und sei zur E.________ AG gefahren. Von dort aus habe er um 16.30 Uhr das Opfer angerufen und ihm mitgeteilt, es solle die Hubarbeitsbühne mittels Kabelrolle an den Strom anschliessen und danach Feierabend machen. In Ergänzung zum erstinstanzlichen Urteil weist die Vorinstanz darauf hin, es sei zu bezweifeln, dass der Beschwerdeführer 1 das Opfer telefonisch ausdrücklich angewiesen habe, die Hubarbeitsbühne nicht in der Ecke einzustecken, da es dort keinen Strom habe. Dies habe er erstmals anlässlich der staatsanwaltschaftlichen Einvernahme vom 10. November 2020 angegeben, nachdem ein Strafverfahren wegen fahrlässiger Tötung gegen ihn eröffnet worden sei. In den beiden vorherigen polizeilichen Einvernahmen als Auskunftsperson habe er dies noch nicht erwähnt, obwohl er dazu befragt worden sei. Dies sei aber ohnehin nicht weiter von Relevanz; es werde im Rechtlichen darauf zurückgekommen.

Schliesslich stellt die Vorinstanz fest, im Anschluss an das Telefonat mit dem Beschwerdeführer 1 sei das Opfer mit der Hubarbeitsbühne, die lediglich über ein sehr kurzes Stromanschlusskabel verfüge, nahe an eine sich an einer Wand befindlichen Steckdose herangefahren. Wegen einer Fehlmanipulation seitens des Opfers habe sich die Hubarbeitsbühne nach oben bewegt und seinen Kopf und Hals zwischen dem Geländer der Hubarbeitsbühne und einem an der Decke hängenden Kabelkanal eingeklemmt. Aufgrund des dadurch eingeklemmten Halses sei das Opfer infolge Erstickung noch auf der Unfallstelle verstorben. Der genaue Unfallhergang lasse sich nicht eruieren und die Fragen, auf welcher Höhe sich die Hubarbeitsbühne zu Beginn der Fehlmanipulation befunden habe und wie viel Zeit zwischen der Fehlmanipulation und dem Einklemmen vergangen seien, könnten nicht beantwortet werden.

 

Entscheid des Bundesgerichts

Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die Vorinstanz (Urteil des Kantonsgerichts Luzern, 2. Abteilung, vom 28. April 2022 (4M 21 96 / 4M 21 97)) kein Bundesrecht verletzt hatte, indem die beiden Beschwerdeführer wegen fahrlässiger Tötung schuldig gesprochen wurden.

 

Zur Fürsorgepflicht des Arbeitgebers siehe auch (Auswahl):

 

Autor: Nicolas Facincani

 

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