Im Entscheid BGer 8C_17/2021 vom 20. Mai 2021 hatte sich das Bundesgericht mit dem Anspruch auf Kurzarbeit von Sexarbeiterinnen auseinanderzusetzen.

 

Ausgestaltung der Erwerbstätigkeit

Gemäss Bundesgericht (BGer 8C_17/2021 vom 20. Mai 2021, E. 4.1) kann Prostitution in der Schweiz sowohl als selbstständige wie auch als unselbstständige Form von Erwerbstätigkeit ausgeübt werden (auch bereits BGE 140 II 460 E. 4.3 mit Hinweis auf die Urteile 9C_347/2013 vom 3. Juli 2013 E. 5.3 und 9C_246/2011 vom 22. November 2011 E. 3 und 6; vgl. Bundesamt für Migration [BFM], Bericht zur Rotlichtproblematik vom Januar 2012, S. 6 ff.; abrufbar unter www.sem.admin.ch).

Hingegen ist zu beachten, dass diese Sicht zwar aus sozialversicherungsrechtlicher Perspektive zutreffen mag, in privatrechtlicher Hinsicht liegt aber dennoch kein Arbeitsvertrag vor, da die Voraussetzungen der Legaldefinition nicht erfüllt sind.

So führte auch der Arbeitgeber vor Bundesgericht aus – und das Bundesgericht stimmte zu, dass die Ausübung der Prostitution im Rahmen eines eigentlichen Arbeitsvertrags nach Art. 319 ff. OR nicht erbracht werden könne. Die freie Bestimmung über das Ob, die Art und den Umfang einer sexuellen Dienstleistung, die jederzeit gewährt bleiben müsse, verbunden mit dem jederzeitigen Verweigerungs- oder Widerrufsrecht stünde der Weisungsbefugnis des Arbeitgebers entgegen (vgl. Art. 27 Abs. 2 ZGB zum Persönlichkeitsschutz und Art. 195 StGB zum Tatbestand der Förderung der Prostitution; ferner Rechtsgutachten des Eidgenössischen Polizei- und Justizdepartements [EJPD] vom 11. Januar 2013 über die „Réglementation du marché de la prostitution“ in: JAAC 2/2014 vom 22. Oktober 2014). Demgemäss bestehe laut dem Mustervertrag „Arbeitsvertrag für Erotikmasseusen im Kanton Thurgau“ kein Unterordnungsverhältnis oder Weisungsrecht der Arbeitgeberin. Die Sexarbeiterinnen könnten vertraglich jederzeit ihre Kunden selber auswählen und unerwünschte Praktiken ablehnen, eine Arbeits- und Leistungspflicht bestehe nicht. Die Arbeitsleistung würde quasi auf Abruf des Kunden erbracht, wobei auch dann keine Arbeitspflicht bestehe und dem Kunden kein Weisungsrecht zukomme.

 

Sachverhalt

Der Arbeitgeber betrieb den Sex-Club B.. Durch die bundesrätlichen Massnahmen im Zusammenhang mit dem Coronavirus blieb der Betrieb vom 17. März bis 5. Juni 2020 geschlossen. Was die konkrete Ausgestaltung der Tätigkeit im Sex-Club B.________ anbelangt, war unbestritten, dass zwischen den Sexarbeiterinnen und dem Arbeitgeber Beschäftigungsverhältnisse bestehen und jene aus sozialversicherungsrechtlichem Blickwinkel unselbstständig erwerbstätig sind (vgl. BGE 140 II 460 E. 4). Der Arbeitgeber verarbgabte dementsprechend Sozialversicherungsbeiträge, basierend auf den einzelnen Einsatztagen. Unbestritten war zudem auch, dass die im Sex-Club B. tätigen Sexarbeiterinnen mit dem für die kurzzeitige Dienstleistungserbringung in der Schweiz aus dem EU-Raum eingeführten ausländerrechtlichen Meldeverfahren für die Tätigkeit im Sex-Club B.________ in der Schweiz angemeldet werden

Am 1. April 2020 reichte der Arbeitgeber beim Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Thurgau (nachfolgend: AWA) die Voranmeldung von Kurzarbeit ab Beginn der Schliessung für 30 Beschäftigte ein. Dagegen erhob das AWA mit Verfügung vom 4. Mai 2020 Einspruch, weil mit den Sexarbeiterinnen weder eigentliche Arbeitsverhältnisse eingegangen worden seien noch Arbeit auf Abruf vorliege, weshalb der Arbeitgeber keine Kurzarbeit voranmelden könne. Die dagegen erhobene Einsprache wies das AWA ab (Einspracheentscheid vom 11. Juni 2020).

 

Anspruch auf Kurzarbeit für Arbeitnehmer auf Abruf

Das Bundesgericht fasste in seinem Entscheid zuerst die Rechtslage für den Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung für Arbeitnehmer auf Abruf zusammen:

Nach Art. 17 Abs. 1 lit. e des Bundesgesetzes über die gesetzlichen Grundlagen für Verordnungen des Bundesrates zur Bewältigung der Covid-19-Epidemie vom 25. September 2020 (Covid-19-Gesetz; SR 818.102; rückwirkend in Kraft getreten auf den 1. September 2020 durch die Änderung des Covid-19-Gesetzes vom 18. Dezember 2020; AS 5821) kann der Bundesrat vom AVIG abweichende Bestimmungen erlassen über Anspruch und Auszahlung von Kurzarbeitsentschädigung für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf Abruf in unbefristeten Arbeitsverhältnissen.

Art. 17 Abs. 1 lit. f Covid-19-Gesetz (eingefügt durch Ziff. I der Änderung vom 18. Dezember 2020 des Covid-19-Gesetzes [Kultur, Härtefälle, Sport, Arbeitslosenversicherung, Ordnungsbussen], in Kraft seit 19. Dezember 2020; AS 2020 5821) erlaubt es dem Bundesrat, abweichende Bestimmungen zu erlassen über Anspruch und Auszahlung von Kurzarbeitsentschädigung für Personen nach Art. 33 Abs. 1 lit. e AVIG, d. h. für Personen in befristeten Arbeitsverhältnissen und für Personen in einem Lehrverhältnis (vgl. Botschaft zu Änderungen des Covid-19-Gesetzes und des Covid-19-Solidarbürgschaftsgesetzes vom 18. November 2020 [BBl 2020 8819]).

Der Bundesrat hat mit der Verordnung über Massnahmen im Bereich der Arbeitslosenversicherung im Zusammenhang mit dem Coronavirus (Covid-19) vom 20. März 2020 (Covid-19-Verordnung Arbeitslosenversicherung; SR 837.033) Erleichterungen in Bezug auf die Kurzarbeit eingeführt und u.a. den Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung auf bestimmte Anspruchsgruppen ausgeweitet. Art. 4 Abs. 1 Covid-19-Verordnung Arbeitslosenversicherung – in der vom 1. Juni bis 31. August 2020 gültig gewesenen Fassung – sieht vor, dass in Abweichung von Art. 33 Abs. 1 lit. e AVIG ein Arbeitsausfall anrechenbar ist, soweit er Personen betrifft, die in einem Arbeitsverhältnis auf bestimmte Dauer oder im Dienste einer Organisation für Temporärarbeit stehen (AS 2020 3569). In der vom 17. März bis 31. Mai 2020 in Kraft stehenden Fassung sind Lehrverhältnisse ebenfalls aufgeführt (AS 2020 1777). Indes sind im vorliegenden Rechtsstreit keine Lehrverhältnisse betroffen, sodass die Frage nach der hier anwendbaren Fassung von Art. 4 Abs. 1 Covid-19-Verordnung Arbeitslosenversicherung für den interessierenden Zeitraum vom 17. März bis 5. Juni 2020 keine Bedeutung zukommt.

Art. 8f Abs. 1 Covid-19-Verordnung Arbeitslosenversicherung (eingefügt durch Ziff. I 1 der Verordnung vom 8. April 2020 über ergänzende Massnahmen im Zusammenhang mit dem Coronavirus im Bereich der Arbeitslosenversicherung, gültig gewesen vom 9. April bis 31. August 2020; AS 2020 1201) bestimmt, dass in Abweichung von Art. 31 Abs. 3 lit. a und 33 Abs. 1 lit. b AVIG Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf Abruf, deren Beschäftigungsgrad starken Schwankungen unterliegt (mehr als 20 %), ebenfalls Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung haben, sofern sie seit mehr als sechs Monaten in dem Unternehmen arbeiten, das Kurzarbeit anmeldet. Nach dem Wortlaut der seit 1. September 2020 in Kraft stehenden Fassung von Art. 8f Abs. 1 Covid-19-Verordnung (AS 2020 4517) setzt der Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auf Abruf voraus, dass „sie seit mindestens 6 Monaten unbefristet in dem Unternehmen arbeiten, das Kurzarbeit anmeldet“. Gemäss Art. 8f Abs. 2 der Covid-19-Verordnung Arbeitslosenversicherung bestimmt die zuständige Behörde den Arbeitsausfall auf der Basis der letzten 6 oder 12 Monate und rechnet den für die jeweilige Arbeitnehmerin oder den jeweiligen Arbeitnehmer günstigsten Arbeitsausfall an.

 

Entscheid des Bundesgerichts

Das Bundesgericht lehnte den Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung für die Sexarbeiterinnnen, welche Mittel Meldeverfahren angeldet waren, aus den nachfolgenden Gründen ab:

  • Gemäss dem Meldeverfahren brauchen Angehörige der EU/EFTA-Mitgliedstaaten (ohne Kroatien) für eine kurzfristige Tätigkeit in der Schweiz bis zu drei Monaten im Kalenderjahr keine Bewilligung (Art. 6 des Entsendegesetzes vom 8. Oktober 1999 [EntsG; SR 823.20]; in Verbindung mit Art. 9 Abs. 1bis der Verordnung vom 22. Mai 2002 über die Einführung des freien Personenverkehrs [VEP; SR 142.203]; siehe auch Weisungen VFP des Staatssekretariats für Migration SEM Ziff. 3.1.2 S. 32 bezüglich Tätigkeiten im Erotikgewerbe). In der Einsprache vom 12. Mai 2020 führte die Beschwerdegegnerin zudem aus, wenn die 90 Tage im Rahmen des Meldeverfahrens im Jahr aufgebraucht seien, könne im Kanton Thurgau eine Kurzaufenthaltsbewilligung beantragt werden, allerdings längstens für einen Monat. 
  • 4.5.2. In Würdigung des Umstands, dass die im Meldeverfahren in der Schweiz tätigen Sexarbeiterinnen längstens für 90 Tage im Jahr für die Beschwerdegegnerin tätig sein dürfen und eine Kurzaufenthaltsbewilligung bei abgelaufener 90-Tage-Frist – gemäss Angaben der Beschwerdegegnerin – nur für einen Monat erteilt wird, erfüllen die Sexarbeiterinnen die Voraussetzungen nach Art. 8f Abs. 1 Covid-19-Verordnung Arbeitslosenversicherung nicht, ohne dass es weiterer Abklärungen bedürfte, da sie nicht mehr als sechs Monate vor der Anmeldung für Kurzarbeit für die Beschwerdegegnerin tätig sein konnten. Unter Einbezug der auf den 1. September 2020 in Kraft getretenen Version von Art. 8f der Covid-19-Verordnung Arbeitslosenversicherung (vorstehende E. 4.4), deren Wortlaut nunmehr explizit ein unbefristetes Arbeitsverhältnis auf Abruf als Anspruchsvoraussetzung nennt und damit die gesetzlichen Vorgaben des gleichentags in Kraft getretenen Art. 17 Abs. 1 lit. e Covid-19-Gesetz umsetzt, kann die hier geltende Version nicht dahingehend verstanden werden, dass befristete, unechte Arbeitsverhältnisse auf Abruf, deren einzelne Beschäftigungsverhältnisse weniger als sechs Monate dauern, ebenfalls unter diese Regelung zu subsumieren sind. Die gegenteilige Auffassung der Vorinstanz verletzt Bundesrecht.  
  • 4.6.1. Eigentliche, auf bestimmte Dauer abgeschlossene Arbeitsvertragsverhältnisse nach Art. 319 ff. OR liegen hier, nach dem Dargelegten, nicht vor. Auch wenn Art. 4 der Covid-19-Verordnung Arbeitslosenversicherung keine Mindestdauer des befristeten Arbeitsverhältnisses für den Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung festlegt, ist indessen zumindest fraglich, ob die gegebenen Vertragsverhältnisse von dieser Bestimmung erfasst werden. Dies braucht mit Blick auf Nachstehendes nicht abschliessend beurteilt zu werden.  
  • 4.6.2. Die in E. 4.6 dargelegte ausländerrechtliche Aufenthaltsregelung bringt es unbestritten mit sich, dass die Sexarbeiterinnen häufig den Aufenthalts- und Arbeitsort wechseln. Dies zeigt sich auch dadurch, dass die Beschwerdegegnerin in der Einsprache vom 12. Mai 2020 den vom Beschwerdeführer korrekterweise geforderten Nachweis, welche Sexarbeiterinnen von der Kurzarbeit betroffen sind, als „sehr schwierig zu erbringen“ bezeichnete. Weshalb nicht zumindest die im Meldeverfahren bis 16. März 2020 (und darüber hinaus) bereits erfassten Sexarbeiterinnen, sowie jene mit Kurzaufenthaltsbewilligung, hätten aufgelistet werden können, ist nicht ersichtlich. Vielmehr legte die Beschwerdegegnerin im Verwaltungs- wie auch im nachfolgenden Gerichtsverfahren lediglich eine einzige Meldebestätigung mit einem aufgeführten Beginn und Ende des Vertragsverhältnisses zu den Akten sowie eine Stundenzusammenfassung mehrerer Sexarbeiterinnen für die Zeit vom 1. bis 31. März 2020. Diese enthielt jedoch unbestrittenermassen auch ausländerrechtlich nicht korrekt gemeldete Sexarbeiterinnen. Für der Arbeitslosenversicherung unbekannte oder nicht korrekt gemeldete Personen lässt sich ein für den Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung vorausgesetzter anrechenbarer Arbeitsausfall von vornherein nicht feststellen.  
  • 4.6.3. Wie sodann in der Botschaft zum Bundesgesetz über die gesetzlichen Grundlagen für Verordnungen des Bundesrates zur Bewältigung der Covid-19-Epidemie (Covid-19-Gesetz) vom 12. August 2020 (BBl 2020 2068 S. 6563 ff.) in Ziff. 2.3.8 ausgeführt wurde, besteht der Sinn und Zweck der Kurzarbeitsentschädigung nicht in der Existenzsicherung des Betriebs bzw. der Deckung von Umsatz- oder Betriebseinbussen, sondern im Erhalt von Arbeitsplätzen durch die Verhinderung von kurzfristig aufgrund des Arbeitsrückgangs ausgesprochenen Kündigungen. Zu bedenken gilt es überdies, dass, nachdem der Beschwerdegegnerin die im geltend gemachten Zeitraum durch die Betriebsschliessung betroffenen Sexarbeiterinnen systembedingt offenbar nicht (hinreichend) bekannt sind, sie diesen keine Geldleistungen ausrichten könnte. Die Kurzarbeitsentschädigung sieht jedoch in Art. 37 AVIG gerade vor, dass die Arbeitgeberin die Kurzarbeitsentschädigung vorzuschiessen und den Arbeitnehmenden am ordentlichen Zahlungstermin auszurichten hat. Kommt hinzu, dass die Beschwerdegegnerin den Sexarbeiterinnen keine Lohnzahlungen schuldet, da diese direkt durch die Kunden bezahlt werden. Hier käme eine Ausrichtung von Kurzarbeitsentschädigung einzig und alleine dem von der Schliessung betroffenen Betrieb zugute, was, wie soeben ausgeführt, nicht der durch die ausserordentliche Ausweitung der Kurzarbeitsentschädigung auf weitere Anspruchsgruppen dargelegten Intention der bundesrätlichen Massnahme entspricht. Das Institut der Kurzarbeitsentschädigung folgt daher eigenen Anspruchs- und Bemessungsvorschriften (vgl. NUSSBAUMER, a.a.O. S. 2401 Rz. 456) und ein solcher Anspruch ist nicht schon aufgrund des Umstands zu bejahen, dass für die Sexarbeiterinnen Sozialversicherungsbeiträge entrichtet werden. 

 

Weitere Beiträge zur Qualifikation von Verträgen:

 

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Autor: Nicolas Facincani

 

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