Aus einem Entscheid des deutschen Bundesarbeitsgerichts und damit des letztinstanzlichen Gerichts der deutschen Arbeitsgerichtsbarkeit vom 27. April 2021 geht hervor, dass nach deutschem Recht die Arbeitgeberin den Zeugnisanspruch eines Arbeitnehmers regelmäßig nicht dadurch zu erfüllen vermag, indem er Leistung und Verhalten des Arbeitnehmers im Arbeitsverhältnis in einer an ein Schulzeugnis angelehnten tabellarischen Darstellungsform beurteilt. Vielmehr liessen sich gemäss dem Bundesarbeitsgericht die zur Erreichung des Zeugniszwecks erforderlichen individuellen Hervorhebungen und Differenzierungen in der Beurteilung regelmäßig nur durch ein im Fliesstext formuliertes Arbeitszeugnis angemessen herausstellen (zum Ganzen vgl. Urteil 9 AZR 262/20 vom 27. April 2021 des Bundesarbeitsgerichts, Leitsatz S. 1, nachfolgend «BAGE 9 AZR 262/20»).

Dem Entscheid ging eine arbeitsrechtliche Streitigkeit der beiden Parteien über ein von der Arbeitgeberin ausgestelltes qualifiziertes Zeugnis voraus. Der Arbeitnehmer stellte sich auf den Standpunkt, dass u.a. die tabellarische Darstellung der Leistungs- und Verhaltensbeurteilung nach stichwortartigen und mit Schulnoten versehenen Bewertungskriterien einen negativen Eindruck von ihm als Arbeitnehmer hervorrufen könne (zum Ganzen BAGE 9 AZR 262/20, Rz. 4).

Unter Verweis auf die im deutschen Recht geltenden Grundsätze der Klarheit und Verständlichkeit (BAGE 9 AZR 262/20, Rz. 10) eines qualifizierten Arbeitszeugnisses sowie der rechtlichen Voraussetzung eines Arbeitszeugnisses als «individuell auf den einzelnen Arbeitnehmer zugeschnittenes Arbeitspapier», welchem regelmäßig nur ein individuell abgefasster Text gerecht werden kann (BAGE 9 AZR 262/20, Rz. 16), sah das Bundesarbeitsgericht diese Voraussetzungen vorliegend als nicht erfüllt und damit das Arbeitszeugnis als unzulässig an.

Das höchste Gericht Deutschlands für die Deutsche Arbeitsgerichtsbarkeit hielt weitergehend fest:

«Anders als bei einem Schulzeugnis, bei dem sich die Notenvergabe nach dem Grad des Erreichens der im Curriculum festgelegten Lernzielvorgabe bemisst und regelmäßig in erheblichem Maße durch schriftliche Lernnachweise gestützt wird, weisen weder die Bewertungskriterien einen objektiven Bezugspunkt auf noch beruhen die erteilten Noten in der Regel auf Leistungsnachweisen. Außerdem lässt sich die gebotene Individualisierung der Leistungs- und Verhaltensbeurteilung eines Arbeitszeugnisses nicht mit einem Zeugnis erreichen, das auf eine Aufzählung von Einzelkriterien und „Schulnoten“ reduziert ist. Es brächte die besonderen Anforderungen und Verhältnisse des Betriebs und der individuellen Funktion des Arbeitnehmers innerhalb der vom Arbeitgeber gestalteten Organisationsstruktur nicht hinreichend zum Ausdruck. Individuelle Hervorhebungen und Differenzierungen lassen sich regelmäßig nur durch ein im Fließtext formuliertes Arbeitszeugnis angemessen herausstellen. Nur dann sind sie geeignet, die besonderen Nuancen des beendeten Arbeitsverhältnisses darzustellen und damit den Zeugniszweck als aussagekräftige Bewerbungsunterlage in Bezug auf seine konkrete Person zu erfüllen. Dies gilt unabhängig davon, ob heute noch regelmäßig ein Zeugnis im Fließtext erwartet wird oder im Geschäftsleben üblich ist.» (BAGE 9 AZR 262/20, Rz. 20)

 

Anforderungen an ein qualifiziertes Arbeitszeugnis nach Schweizer Recht

Gemäss Art. 330a Abs. 1 OR kann der Arbeitnehmer jederzeit von der Arbeitgeberin ein Zeugnis verlangen, das sich über die Art und Dauer des Arbeitsverhältnisses sowie über seine Leistungen und sein Verhalten ausspricht. Dabei kann der Arbeitnehmer frei wählen, ob er ein solches qualifiziertes Zeugnis (Vollzeugnis, welches sich über Art und Dauer sowie Leistungen und Verhalten des Arbeitnehmers, vgl. Art. 330a Abs. 1 OR) oder ein einfaches Zeugnis (Arbeitsbestätigung) von der Arbeitgeberin möchte (Etter, in: Etter/Facincani/Sutter, Arbeitsvertrag, Art. 330a N 1 m.w.H).

Ein qualifiziertes Zeugnis bzw. Vollzeugnis soll einerseits das berufliche Fortkommen des Arbeitnehmers fördern und deshalb wohlwollend formuliert werden. Andererseits soll es künftigen Arbeitgebern ein möglichst getreues Abbild von Tätigkeit, Leistung und Verhalten des Arbeitnehmers geben, weshalb es grundsätzlich wahr, klar und vollständig zu sein hat. Es sind mithin insbesondere die Grundsätze der Wahrheit, Klarheit, Vollständigkeit und des Wohlwollens zu beachten (Entscheid A-3238/2020 des Bundesverwaltungsgericht vom 21. Dezember 2020, E. 3; so auch Etter, in: Etter/Facincani/Sutter, Arbeitsvertrag, Art. 330a N 24 ff.).

Aus den Grundsätzen der Wahrheit und der Vollständigkeit folgt, dass das Arbeitszeugnis über alle in Art. 330a Abs. 1 OR erwähnten Punkte (Art und Dauer des Arbeitsverhältnisses, Leistungen und Verhalten) Auskunft geben muss. Dabei hat die Bewertung der Leistungen aussagekräftig zu sein, insbesondere hinsichtlich Qualität und Quantität der Arbeit. Das Zeugnis muss die Leistung und das Verhalten so konkret und ausführlich schilden, dass sich eine neue Arbeitgeberin ein aussagekräftiges Bild über die Qualifikation des Arbeitnehmers machen kann (zum Ganzen Streiff/von Kaenel/Rudolph, Art. 330a N 3). Insbesondere darf die Arbeitgeberin nur dann eine offensichtlich negative Leistungsbeurteilung im Zeugnis vornehmen, falls er die von ihm aufgeführte Kritik durch Hinweise auf Tatsachen belegen kann (Portmann/Rudolph, BSK OR I, Art. 330a N 7 unter Verweis auf den Entscheid KGer, GR, JAR 2001, 229).

Während die inhaltlichen Anforderungen an ein Arbeitszeugnis den erwähnten Grundsätzen zu folgen haben, hat das Arbeitszeugnis in seinem äussern Erscheinungsbild den üblichen Anforderungen im Geschäftsverkehr zu entsprechen, was heisst, dass grundsätzlich auf das im Geschäftsbereich der Arbeitgeberin übliche Mass an Sorgfalt abzustellen ist (Streiff/von Kaenel/Rudolph Art. 330a OR, N 3).

Damit folgt die Erstellung eines qualifizierten Arbeitszeugnisses grundsätzlich den erwähnten Grundsätzen des deutschen Rechts. Jedoch sind in der Schweizer Literatur keine Autoren bekannt, welche sich (ausführlich) mit der Thematik der Zulässigkeit eines Arbeitszeugnisses mit Schulnoten auseinandersetzen. Auch ein einschlägiger Entscheid des Bundesgerichts fehlt. Damit kann die Frage nach der Zulässigkeit des Erstellens eines Arbeitszeugnisses mit Schulnoten in der Schweiz weder mit Verweis auf eine herrschende Lehre noch einer Rechtsprechung klar beantwortet werden.

 

Zulässigkeit von Arbeitszeugnissen mit Schulnoten in der Schweiz?

Stellt eine Arbeitgeberin ein qualifiziertes Zeugnis aus, welches die Leistungen des Arbeitnehmers in Form einer Schulnotenbewertung ausweist, dürfte fraglich sein, ob diese Form des Arbeitszeugnisses den üblichen Anforderungen im Geschäftsverkehr entspricht. Gerade auch in Bezug auf allfällige negative Punkte in der Leistungsbewertung, welche von der Arbeitgeberin durch Hinweis auf Tatsachen belegt werden müssen, darf bezweifelt werden, ob ein Arbeitszeugnis mit einer tabellarischen Bewertung in Form von Schulnoten diesem Anspruch Genüge tun kann. Letztlich müsste aber stets der Einzelfall beurteilt werden.

Der Begründung des Bundesarbeitsgerichts, dass dem Arbeitszeugnis als individuell auf den einzelnen Arbeitnehmer zugeschnittenes Arbeitspapier regelmässig nur mit einem individuell abgefassten Text gerecht werden kann, kann unseres Erachtens allerdings nur bedingt gefolgt werden. Zwar wird der Grundsatz der Individualität des Arbeitszeugnisses auch in der Schweizer Lehre vertreten (vgl. Brühwiler, Einzelarbeitsvertrag, Art. 330a N 3). Allerdings ist diesbezüglich insbesondere im Hinblick auf vorformulierte Textbausteine, welche in der Praxis sehr häufig zur Erstellung eines Arbeitszeugnisses verwendet werden, fraglich, ob diese für mehr Individualität des Arbeitszeugnisses sorgen können, als dies eine allfällige Leistungsbewertung nach Noten tut. Dies hat insbesondere dort zu gelten, wo die vorformulierten Textbausteine indirekt von einer von der Arbeitgeberin intern vergebenen Note abhängen.

Dennoch dürften u. E. auch in der Schweiz Arbeitszeugnisse, welche die Leistungen des Arbeitnehmers in Form einer Notenbewertung ausweisen, eher kritisch zu beurteilen sein. Allenfalls könnte es mit einer grösseren Anzahl von bewerteten Leistungspunkten gelingen, ein konkretes und ausführliches Bild des Arbeitnehmers im Arbeitszeugnis widerzugeben.

 

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Autoren: Nicolas Facincani / Seline Wissler

 

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