Im Zusammenhang mit der Einführung von Mindestlöhnen hatte der Kanton Tessin im Jahr 2015 seine Kantonsverfassung wie folgt geändert:

Art. 13 Abs. 3: Jede Person hat Anspruch auf einen Mindestlohn, der ihr ein würdiges Dasein sichert. Ist ein Mindestlohn nicht durch einen Gesamtarbeitsvertrag garantiert, der allgemeinverbindlich ist oder der einen obligatorischen Mindestlohn vorsieht, so wird ein solcher vom Staatsrat festgelegt in Form eines prozentualen Anteils des nationalen Medianlohnes für die entsprechende Art der Aufgabe im entsprechenden Wirtschaftszweig.

Art. 14 Abs. 1 Bst. a: [Der Kanton setzt sich dafür ein, dass] jeder seinen Lebensunterhalt durch Arbeit zu angemessenen Bedingungen bestreiten kann, gegen die Folgen von unverschuldeter Arbeitslosigkeit geschützt ist und in den Genuss von bezahlten Ferien gelangt.

Gestützt hierauf wurde das Tessiner Mindestlohngesetz (LSM; Legge sul salario minimo) erlassen, welches per 1. Januar 2021 in Kraft trat. Das Gesetz ist kurz gehalten und behandelt vorwiegend den Zweck (Art. 1 LSM), den Anwendungsbereich und die Ausnahmen (Art. 2 und 3 LSM), die Kriterien und Schwellenwerte für die Festsetzung der Löhne (Art. 4 LSM) und die Fristen für die Umsetzung (Art. 11 LSM) betreffen.

Im Zusammenhang mit der Gesetzeseinführung hatten verschiedene Unternehmen Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten geführt mit dem Begehren zur teilweisen Aufhebung bzw. Änderung gewisser Bestimmungen. Es wurden diverse Verletzungen von Grundrechten gerügt, namentlich ein Verstoss gegen die Wirtschaftsfreiheit, die Rechtgleichheit, die Menschenwürde und die Gewerkschaftsfreiheit (BGer 2C_302/2020 vom 11.11.2021).

 

Abstrakte Normenkontrolle

Im Rahmen der Beschwerden sollte das Bundesgericht beim Entscheid BGer 2C_302/2020 vom 11.11.2021 die Normen im LSM abstrakt und nicht fallspezifisch bzw. konkret prüfen. Im Rahmen der abstrakten Prüfung übt das Bundesgericht aber eine gewisse Selbstbeschränkung aus, indem es eine kantonale Bestimmung nur dann aufhebt, wenn sie sich nicht für eine verfassungskonforme oder höherrangige bundesrechtliche Auslegung eignet (BGE 140 I 2 E. 4; 137 I 31 E. 2 und 135 II 243 E. 2). Konkret: «nell’ambito di un controllo astratto – come quello che ci occupa – il Tribunale federale è chiamato a intervenire solo quando la normativa impugnata non si presta a nessuna interpretazione conforme al diritto superiore e, in questo contesto, a mantenere un certo riserbo, non quindi a vagliare ogni possibile ipotesi di inconciliabilità con esso» (BGer 2C_302/2020, E.3.2).

 

Verstoss gegen das Bundesrecht?

Es stellte sich die Frage, ob das Tessin im Rahmen des LSM Bundesrecht verletzte. Die Zuständigkeit der Kantone für die Festsetzung von Mindestlöhnen ist in klar definierten Grenzen anerkannt: Die Kantone dürfen keine Rechtsvorschriften in Bereichen erlassen, die im Bundesrecht umfassend geregelt sind, es sei denn, sie verfolgen ein anderes Ziel als die Bundesgesetzgebung.

Die Festlegung von Mindestlöhnen ist gemäss Bundesgericht zulässig, um die Armut zu bekämpfen. Dies wurde im Kanton Tessin vorliegend gemacht und vom Bundesgericht nicht beanstandet. Die Bedingungen für die Einführung eines kantonalen Mindestlohns und die Kriterien für die Berechnung dessen ähneln den Bestimmungen im Kanton Neuenburg, wo auch Mindestlöhne vorgesehen werden (Art. 34a KV NE).

 

Des Weiteren wurden verschieden Verstösse gegen die Verfassung geprüft:

Verstoss gegen die Wirtschaftsfreiheit:

Gemäss Art. 94 Abs. 1 BV sind Bund und Kantone an den Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit gebunden; Ziel dieser Bestimmung ist es, die Gewährleistung der Wirtschaftsfreiheit in ihrer institutionellen und systemischen Dimension zu schützen (BGE 143 II 425 E. 4.2 und 143 I 403 E. 4.3). In diesem Zusammenhang anerkennt der Staat, dass die Wirtschaft in erster Linie eine Angelegenheit der Zivilgesellschaft ist und dass er selbst verpflichtet ist, die wesentlichen Elemente des Wettbewerbsmechanismus zu respektieren (BGE 143 I 403 E. 5; 140 I 218 E. 6.2 und 138 I 378 E. 6.3). Gemäss Art. 94 Abs. 4 BV sind Ausnahmen vom Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit, einschliesslich wettbewerbsbeschränkender Massnahmen, nur zulässig, wenn sie in der Verfassung vorgesehen sind oder auf kantonalen Subventionen beruhen (BGer 2C_302/2020, E. 7.2). (Zitat: Secondo l‘art. 94 cpv. 1 Cost., la Confederazione e i Cantoni si attengono al principio della libertà economica; la norma citata mira alla protezione della garanzia della libertà economica nella sua dimensione istituzionale e sistemica (DTF 143 II 425 consid. 4.2 e 143 I 403 consid. 5; sentenza 2C_705/2019 del 12 febbraio 2021 consid. 5.2). In questo contesto, lo Stato riconosce che l’economia è principalmente una questione di competenza della società civile e che esso stesso è tenuto a rispettare gli elementi essenziali del meccanismo della concorrenza (DTF 143 I 403 consid. 5; 140 I 218 consid. 6.2 e 138 I 378 consid. 6.3). In via generale, gli è quindi vietato prendere misure suscettibili di ostacolare la libera concorrenza con lo scopo di favorire determinati settori economici o certe forme di attività economica, rispettivamente di dirigere la vita economica secondo un piano determinato (DTF 143 I 403 consid. 5). Giusta l‘art. 94 cpv. 4 Cost., sono ammissibili deroghe al principio della libertà economica, in particolare anche i provvedimenti diretti contro la concorrenza, soltanto se previste dalla Costituzione o fondate su regalie cantonali.)

Im Gegensatz zu Massnahmen wirtschaftlicher Natur, die geeignet sind, den freien Wettbewerb zu behindern oder gar zu beeinträchtigen, fallen staatliche Massnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der Sozialpolitik motiviert sind, oder Massnahmen, die nicht primär durch wirtschaftliche Interessen motiviert sind, nicht in den Anwendungsbereich von Art. 94 BV (BGE 143 I 403, E. 5.2).

 

Verstoss gegen Artikel 8 BV:

Das Bundesgericht hielt fest, dass der Betrag, der in einem bestimmten Kanton ein „menschenwürdiges“ Leben ermöglicht, im Prinzip für jede Person gleich hoch ist. (BGE 143 I 403, E. 5.6.6). Entsprechend sei eine Differenzierung nach der Tätigkeitsbeschreibung, per se obsolet. Weiter habe das Tessin die Mindestlöhne nach Sektoren festgelegt und nur sehr begrenzte Schwankungen erlaubt (nie mehr als 0,50 CHF, Art. 4 Abs. 1 und Art. 11 LSM). Dabei sei der Handlungsspielraum der Kantone rechtmässig genutzt worden (BGer 2C_302/2020, E. 10.3.2). Entsprechend ist auch keine Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 8 BV zu sehen. (Zitat: Sul fronte opposto (ovvero in relazione alla critica secondo cui non doveva esserci nessuna differenziazione per settori economici), occorre invece rilevare rispettivamente ripetere: (a) che, conscio del fatto che il montante che permette di vivere in maniera „dignitosa“ in un determinato Cantone è di principio lo stesso per ogni persona, ma che una differenziazione era espressamente prevista dall‘art. 13 cpv. 3 Cost./TI, il legislativo ticinese ha sì stabilito i salari minimi per settore, ma ha di fatto deciso che i salari minimi così stabiliti dovranno avere delle variazioni molto limitate (mai superiori a fr. 0.50, art. 4 cpv. 1 e art. 11 LSM); (b) che così facendo esso ha utilizzato l’esiguo spazio di manovra di cui dispongono i Cantoni – al fine di tenere conto, nel rispetto del principio della proporzionalità, delle peculiarità dei differenti settori economici – in maniera che può essere giudicata ancora sostenibile (precedenti consid. 8.6 e 9.3.3 con riferimento alla DTF 143 I 403 consid. 5.6.6); (c) che eventuali ed ingiustificate disparità di trattamento che dovessero sorgere dall’applicazione di questo sistema andranno semmai fatte valere in relazione a casi concreti. Anche la seconda critica che è stata sollevata in relazione all‘art. 8 Cost. (precedente consid. 10.2, lett. b) non è di conseguenza condivisibile e dev’essere respinta.)

 

Verstoss gegen das BGBM:

Die Beschwerdeführer waren der Ansicht, dass die Verpflichtungen, die sich aus dem Tessiner Gesetz über den Mindestlohn ergeben, den Zugang zum kantonalen Markt für in anderen Kantonen niedergelassene Wirtschaftsteilnehmer in unzulässiger Weise beschränken. Dies wurde vom Bundesgericht verworfen.

 

Verstoss gegen Art. 12 BV:

Nach Ansicht der Beschwerdeführer verstiess das Tessiner Gesetz über den Mindestlohn auch gegen die in verankerte Garantie des Rechts auf Hilfe und gegen Art. 7 BV, wonach die Würde der Person zu achten und zu schützen sei. Dies wurde vom Bundesgericht verworfen.

 

Verstoss gegen die Gewerkschaftsfreiheit:

Die Beschwerdeführer waren zudem der Ansicht, dass durch die Festlegung «derart hoher obligatorischer Lohnschwellen die Arbeitgeber daran gehindert werden, ihre Interessen wirksam zu verteidigen, da die Gewerkschaft nicht mehr in der Lage sein wird, jeden durch das neue Gesetz festgelegten niedrigeren Lohn zu unterstützen» (BGer 2C_302/2020,E. 13).

Artikel 28 BV, sieht vor, dass Arbeitnehmer, Arbeitgeber und ihre Organisationen das Recht haben, sich zum Schutz ihrer Interessen zusammenzuschliessen und Vereinigungen zu bilden, sowie das Recht, ihnen beizutreten oder nicht (Abs. 1).

Nach der Rechtsprechung muss zwischen individueller und kollektiver Gewerkschaftsfreiheit unterschieden werden. Die individuelle Gewerkschaftsfreiheit gewährt dem Einzelnen das Recht, zur Gründung einer Gewerkschaft beizutragen, einer bestehenden Gewerkschaft beizutreten oder sich an ihren Aktivitäten zu beteiligen (positive Gewerkschaftsfreiheit), sowie das Recht, einer Gewerkschaft nicht oder nicht mehr beizutreten (negative Gewerkschaftsfreiheit), ohne dass ihm der Staat Hindernisse in den Weg legt. Die kollektive Gewerkschaftsfreiheit erlaubt es den Gewerkschaften, als solche zu bestehen und zu handeln und die Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten; sie beinhaltet insbesondere das Recht, an Tarifverhandlungen teilzunehmen und Gesamtarbeitsverträge abzuschliessen (BGE 143 I 403 E. 6.1 und 140 I 257 E.5)

Auch diese Ansicht wurde vom Bundesgericht verworfen.

(Zitat: 13. Quale ulteriore critica, le ricorrenti 7-11 sollevano invece una lesione della libertà sindacale. Ritengono infatti che fissando „soglie salariali obbligatorie così elevate sarà di fatto preclusa ogni e qualsiasi possibilità per i datori di lavoro di poter procedere ad una difesa efficace dei propri interessi, visto che la controparte sindacale non si troverà più nelle condizioni di poter dare la propria adesione ad alcuna retribuzione inferiore stabilità dalla nuova legge“. 

13.1. L‘art. 28 Cost., che garantisce la libertà sindacale, prevede che i lavoratori, i datori di lavoro nonché le loro organizzazioni hanno il diritto di unirsi e di costituire associazioni a tutela dei loro interessi, nonché il diritto di aderirvi o no (cpv. 1).  

Secondo giurisprudenza, occorre distinguere tra la libertà sindacale individualee la libertà sindacale collettiva. La libertà sindacale individuale riconosce ai singoli il diritto di contribuire alla creazione di un sindacato, di aderire a un sindacato esistente o di partecipare alla sua attività (libertà sindacale positiva), così come quello di non aderirvi o di non farvi più parte (libertà sindacale negativa), senza doversi confrontare con ostacoli posti dallo Stato. La libertà sindacale collettiva garantisce al sindacato la possibilità di esistere e di agire come tale, difendendo gli interessi dei suoi membri; essa implica in particolare il diritto di partecipare a delle negoziazioni collettive e di concludere dei contratti collettivi di lavoro (DTF 143 I 403 consid. 6.1 e 140 I 257 consid. 5; PATRICIA M. SCHIESS RÜTIMANN, in BSK Bundesverfassung, op. cit., n. 9 segg. ad art. 28 Cost.; KLAUS A. VALLENDER/PETER HETTICH, in Die Schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, op. cit., n. 13 segg. [riguardo alla dimensione individuale] e 19 segg. [riguardo alla dimensione collettiva] ad art. 28 Cost.).  

13.2. Anche in relazione all‘art. 28 Cost. – che tutela la libertà sindacale e, in questo contesto, la libertà di concludere delle convenzioni collettive di lavoro – in ricorso è tuttavia votato all’insuccesso. In effetti, il discorso svolto dalle insorgenti è di nuovo solo ipotetico. Nelle poche righe che dedicano alla loro critica, esse non sostanziano inoltre nessuna lesione dell‘art. 36 Cost., relativo alle condizioni in cui pure un’eventuale limitazione dell‘art. 28 Cost. va tollerata (art. 106 cpv. 2 LTFDTF 144 I 306 consid. 4.4.1 e 144 I 50 consid. 6; GIOVANNI BIAGGINI, Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Kommentar, 2a ed. 2017, n. 10 ad art. 28). 

 

Weitere Beiträge zum Lohn (Auswahl):

 

Autor: Nicolas Facincani / Matteo Ritzinger

 

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