Das Bundesgericht hat festgehalten, dass die Kantone im Rahmen des öffentlichen Rechts nur zur Verfolgung sozialpolitischer Ziele (z.B. Armutsbekämpfung) kantonale Mindestlohnvorschriften erlassen dürften. Dabei kann ein gerechtfertigter Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit vorliegen, wenn sowohl das öffentliche Interesse (Sicherung eines menschenwürdigen Lebens) als auch die Verhältnismässigkeit gewahrt wird. Das bedingt unter anderem, dass auf regionale Unterschiede und Branchenunterschiede gezielt Rücksicht genommen wird. Kantonalen Mindestlohnbestimmungen werden durch das Bundesgericht enge Grenzen gesetzt: Damit das sozialpolitische Ziel erhalten bleibt, sind die Lohnvorschriften gemäss Bundesgericht tief anzusetzen. Vereinzelt haben Kantone solche kantonalen Mindestlohnvorschriften erlassen:

Der Kanton Neuenburg hat als erster Kanton 2017 einen Mindestlohn eingeführt. Dies nachdem das Bundesgericht in den Urteilen 2C_774/2014, 2C_813/2014, 2C_815/2014 und 2C_816/2014 vom 21. Juli 2017 die Beschwerden gegen die gesetzliche Festlegung eines minimalen Stundenlohns von 20 Franken im Kanton Neuenburg abgelehnt hatte. Die sozialpolitisch motivierte Massnahme, mit der insbesondere dem Problem von „working poor“ begegnet werden soll, sei mit gemäss dem Bundesgericht mit dem verfassungsmässig garantierten Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit und mit dem Bundesrecht vereinbar.

Zwischenzeitlich gibt es auch in den Kantonen Jura, Tessin, Genf sowie Basel-Stadt Mindestlöhne. Die Stadt Zürich plant einen solchen.

 

GAV sollen kantonale Mindestlöhne ausschalten

Im Dezember 2022 hat der Nationalrat als zweite Kammer der Motion Ettlin zugestimmt (Mit einer Motion wird der Bundesrat beauftragt, einen Entwurf zu einem Erlass der Bundesversammlung vorzulegen oder eine Massnahme zu treffen). Danach soll das Bundesgesetz über die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen (Aveg; SR 221.215.311) um einen Absatz ergänzt werden:

Die Bestimmungen des allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsvertrages zu Mindestlohn, 13. Monatslohn und Ferienanspruch gehen anderslautenden Bestimmungen der Kantone vor.

 

Begründung des Motionärs

Die Einführung des allgemeinen Mindestlohns im Kanton Neuenburg ist eine schwere Belastungsprobe für die bewährte Sozialpartnerschaft in der Schweiz. Dieser Mindestlohn findet seit dem umstrittenen Bundesgerichtsurteil vom August 2017 auch für Betriebe in den Branchen Anwendung, welche einen allgemeinverbindlich erklärten Landes-Gesamtarbeitsvertrag (ave GAV) haben. Das führt zu dem Missstand, dass der Bundesrat zwar sozialpartnerschaftliche GAV für die ganze Schweiz als verbindlich erklärt, aber die gesamtschweizerische Lösung durch kantonale Bestimmungen ausgehebelt werden kann.

Am 27. September 2020 stimmte die Stimmbevölkerung des Kantons Genf einer Volksinitiative für einen Mindestlohn von 23 Franken zu. Der Mindestlohn gilt auch für Branchen mit einem ave GAV. Weitere Kantone könnten diesen Beispielen folgen. Deshalb muss neu geregelt werden, dass die Einigungen zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden, welche der Bundesrat per Beschluss für die ganze Schweiz besiegelt, ausgewählten kantonalen Bestimmungen vorgehen.

Für viele Bereiche des Arbeitsrechts kann infolge des Bundesgerichtsurteils nicht ausgeschlossen werden, dass die Kantone öffentlich-rechtliche Bestimmungen erlassen, die dann gestützt auf Art. 358 OR den Bestimmungen des GAV bzw. des ave GAV vorgehen. Die Kompetenz der Kantone, in einem bestimmten Sachgebiet das Bundesrecht zu ergänzen, erlischt lediglich dann, wenn die Gesetzgebung des Bundes jede Regelung in einem bestimmten Sachgebiet ausschliesst. Deshalb können ave GAV nicht nur im Bereich der Mindestlöhne ausgehebelt werden, sondern auch bei anderen für die Arbeitskosten relevanten Regelungen wie dem 13. Monatslohn und dem Ferienanspruch. Hingegen gehen kantonale Bestimmungen zu Feiertagen weiterhin vor.

Durch die vorgeschlagene Änderung des AVEG wird die Rechtsunsicherheit behoben und die bewährte Sozialpartnerschaft gestärkt, die durch kantonale Gesetze und internationale Verträge zu erodieren droht. Die Sozialpartnerschaft sichert seit über 100 Jahren den Arbeitsfrieden in der Schweiz und soll das auch die nächsten 100 Jahre tun.

Der Bundessrat erachtete die Motion aus verschiedenen Gründen als problematisch:

Mit dem Anliegen des Motionärs soll die verfassungsrechtliche Kompetenz der Kantone, sozialpolitisch tätig zu werden und sozialpolitische Mindestlöhne festzulegen, beschnitten werden. Zudem soll ein allgemeinverbindlicher GAV kantonalen Gesetzen oder gar kantonalen Verfassungen vorgehen. Ein allgemeinverbindlich erklärter GAV geniesst jedoch nicht die demokratische Legitimation, wie sie ein kantonales Gesetz geniesst. Ein GAV ist eine Vereinbarung zwischen Privaten und die Allgemeinverbindlicherklärung eines GAV ändert dessen privatrechtlichen Charakter nicht. Ein allgemeinverbindlicher GAV steht auch nicht auf Gesetzesebene, sondern ist am ehesten mit einer Verordnung zu vergleichen. Da durch die Allgemeinverbindlicherklärung die Vertrags- und Wirtschaftsfreiheit eingeschränkt wird, ist es weiter problematisch, wenn sie zwingendem Recht widersprechen soll. Mit der Realisierung des Anliegens des Motionärs würde der Bundesgesetzgeber den Volkswillen auf Kantonsebene, föderalistische Prinzipien und die verfassungsrechtliche Kompetenzordnung aushebeln.

Die vom Motionär verlangte Änderung des Bundesgesetzes über die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen würde ausserdem eine Änderung von Artikel 358 des Obligationenrechts (OR) erfordern, der regelt, dass zwingendes kantonales Recht Vorrang vor dem Inhalt von GAV hat. GAV-Bestimmungen, die zwingendem kantonalem Recht widersprechen, sind nichtig und können nicht allgemeinverbindlich erklärt werden. Der Bundesrat weist zudem daraufhin, dass die Kantone keine Kompetenz haben, Regelungen über Ferien oder den 13. Monatslohn zu erlassen, da die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Zivilrechts nach Artikel 122 der Bundesverfassung (BV) Sache des Bundes ist.

 

Argumente der Befürworter

Die Befürworter des Vorstosses argumentierten, dass die Sozialpartnerschaft seit über hundert Jahren den Arbeitsfrieden in der Schweiz sichere. Dies solle nicht durch Volksentscheide zu Mindestlöhnen gefährdet werden. Heute bestehe der Missstand, dass von den Sozialpartnern vereinbarte Gesamtarbeitsverträge zwar vom Bundesrat für die ganze Schweiz für allgemeinverbindlich erklärt werden, aber durch kantonale Bestimmungen wieder ausgehebelt werden könnten.

 

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Autor: Nicolas Facincani

 

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