Das Bundesgesetz über die Arbeit in Industrie, Gewerbe und Handel (Arbeitsgesetz, ArG) ist ausser mit Bezug auf die Vorschriften über den Gesundheitsschutz u. a. nicht auf Arbeitnehmer, die eine höhere leitende Tätigkeit ausüben, anwendbar (Art. 3 lit. d ArG). Damit untersteht diese Personengruppe namentlich nicht den Vorschriften zu Arbeits- und Ruhezeiten. Auf sie sind die gesetzlich festgelegten wöchentlichen Höchstarbeitszeiten, Nacht- und Sonntagsarbeitsverbote und Mindestruhezeiten nicht anwendbar. Folglich gelten auch die Vorschriften zur Überzeit hier nicht. Höhere leitende Angestellte sollen für den Arbeitgeber in zeitlicher Hinsicht frei verfügbar sein (BGE 98 Ib 344, E. 2) und bedürfen wegen ihrer besonderen Stellung im Betrieb nicht des öffentlich-rechtlichen Schutzes des Arbeitsgesetzes (mit Ausnahme des Gesundheitsschutzes).

Was unter einer höheren leitenden Tätigkeit zu verstehen ist, definiert Art. 9 der Verordnung Nr. 1 zum ArG (ArGV 1). Demnach gilt, dass eine höhere leitende Tätigkeit ausübt, «wer auf Grund seiner Stellung und Verantwortung sowie in Abhängigkeit von der Grösse des Betriebes über weitreichende Entscheidungsbefugnisse verfügt oder Entscheide von grosser Tragweite massgeblich beeinflussen und dadurch auf die Struktur, den Geschäftsgang und die Entwicklung eines Betriebes oder Betriebsteils einen nachhaltigen Einfluss nehmen kann.»

 

BGer 4A_30/2021 vom 16. Juli 2021

In dem im Entscheid 4A_30/2021 vom 16. Juli 2021 zu beurteilenden Sachverhalt machte ein Arbeitnehmer nach der Kündigung Ansprüche aus Überzeit und Sonntagsarbeit geltend, was vom Arbeitgeber verneint wurde, da er eine höhere leitende Tätigkeit ausgeübt habe.

Der Arbeitnehmer war ab dem 1. Oktober 2015 bei der Arbeitgeberin als „Projektleiter Wassersport“ mit einem Jahresgehalt von Fr. 156’000.– brutto angestellt. Sein jährlicher Ferienanspruch betrug 28 Tage, wovon drei Tage zur Kompensation dafür dienen sollten, dass „keine Überzeit geltend gemacht werden kann“. Überdies stellte ihm die Arbeitgeberin eine Personalwohnung zur Verfügung. Am 18. Januar 2016 schlossen die Parteien zudem einen befristeten Entsendungsvertrag ab, in welchem die Stelle des Arbeitnehmers als „Watersport Manager“ bezeichnet wurde.

 

Entscheid der Vorinstanz

Die Vorinstanz erwog, der Arbeitnehmer habe eine höhere leitende Tätigkeit im Sinne von Art. 3 lit. d ArG ausgeübt, weshalb ihm kein Anspruch auf Entschädigung für Überzeit und Sonntagsarbeit zustehe.

Die Vorinstanz qualifizierte den Arbeitnehmer mit folgenden Argumenten als höheren leitenden Angestellten im Sinne von Art. 9 ArGV 1:

  • Der Beschwerdeführer leitete den Bereich Wassersport, der einen wesentlichen Teil des Angebots der Arbeitgeberin betraf, mit dem sie sich auf dem Markt strategisch positionierte.
  • Er hatte weitreichende und strategisch relevante Aufgaben zu erfüllen, wie namentlich die Ausbildung und Planung im Bereich Wassersport, die Materialeinkaufs- und die Stationsplanung, die Erschliessung neuer Stationen, die Erstellung des Budgets der bestehenden acht Wassersportstationen sowie des dreijährigen Businessplans für den Bereich Wassersport. Überdies war er zuständig für die im Businessplan enthaltenen Investitionen von über CHF 5 Mio. Der Beschwerdeführer verantwortete ferner sämtliche Personalentscheide im Bereich Wassersport jenseits von Einstellung und Kündigung, inklusive Einsatzplanung.
  • Bei Entscheiden von grosser Tragweite hatte er gegenüber der CEO und/oder dem Verwaltungsrat einen massgeblichen Einfluss, was sich darin zeigte, dass seine Vorschläge betreffend die von der CEO oder dem Verwaltungsrat zu treffenden Grundsatzentscheide von dieser beziehungsweise diesem bloss abgesegnet wurden. Bei Entscheiden von weniger grosser Tragweite war er völlig frei.
  • Der Beschwerdeführer war direkt der CEO unterstellt und verdiente nur unwesentlich weniger als ein Konzernleitungsmitglied.

Sodann erwog die Vorinstanz unter anderem, die Annahme einer höheren leitenden Tätigkeit setze nicht zwingend voraus, dass die betreffende Person Grundsatzentscheide gänzlich eigenständig fällen könne. Insbesondere in grösseren Unternehmen, wie die Arbeitgeberin, gehöre es zum normalen Ablauf, dass grundlegende Entscheide dem Verwaltungsrat vorgelegt würden. Der Arbeitnehmer habe in seinen Rechtsschriften ausdrücklich und konsequent von einem „Absegnen“ der von ihm der Chief Executive Officer (nachfolgend: CEO) und/oder dem Verwaltungsrat vorgelegten Vorschläge gesprochen, was nicht bloss eine oberflächliche Kontrolle mit anschliessender Genehmigung impliziere, sondern auch belege, dass er bei Entscheiden von grosser Tragweite tatsächlich einen massgeblichen Einfluss habe ausüben können.

An der Beurteilung nichts zu ändern vermöge, dass der Arbeitnehmer nicht im Handelsregister eingetragen gewesen sei. Einzelne Aspekte – wie die (fehlende) Zeichnungsberechtigung – seien gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht ausschlaggebend. Dies gelte umso mehr, als die Arbeitgeberin die fehlende Eintragung mit der überwiegenden Auslandstätigkeit des Arbeitnehmers grundsätzlich plausibel zu erklären vermocht habe.

Überdies habe seine damalige Aufgabe, in verschiedenen Resorts Wassersportstationen aufzubauen, einen wesentlichen Teil des Angebots der Beschwerdegegnerin betroffen, mit dem sie sich auf dem Markt strategisch positioniert habe. Ferner sei der Beschwerdeführer direkt der CEO unterstellt gewesen und habe mit seinem Jahreslohn von Fr. 156’000.– brutto (zuzüglich unentgeltlicher Nutzung eines Telefons, eines Laptops und einer Personalwohnung) nur unwesentlich weniger verdient als ein Konzernleitungsmitglied.

 

Entscheid des Bundesgerichts

Das Bundesgericht schützte den kantonalen Entscheid und bejahte das Vorliegen einer höheren leitenden Tätigkeit. Dabei fasste es nochmals zusammen, was unter einer höheren leitenden Tätigkeit zu verstehen ist:

Nach Art. 3 lit. d ArG ist das Arbeitsgesetz unter anderem grundsätzlich (das heisst unter Vorbehalt des vorliegend nicht interessierenden Art. 3a ArG) nicht anwendbar auf Arbeitnehmer, die eine höhere leitende Tätigkeit ausüben. Eine solche übt aus, wer auf Grund seiner Stellung und Verantwortung sowie in Abhängigkeit von der Grösse des Betriebs über weitreichende Entscheidungsbefugnisse verfügt oder Entscheide von grosser Tragweite massgeblich beeinflussen und dadurch auf die Struktur, den Geschäftsgang und die Entwicklung eines Betriebs oder Betriebsteils einen nachhaltigen Einfluss nehmen kann (Art. 9 der Verordnung 1 vom 10. Mai 2000 zum Arbeitsgesetz [ArGV 1; SR 822.111]). Dafür reicht nicht aus, dass ein Arbeitnehmer eine Vertrauensstellung im Unternehmen inne hat. Einzelne Aspekte, die auf eine leitende Funktion hinweisen können wie Unterschrifts- oder Weisungsbefugnis oder die Höhe des Lohns sind für sich allein nicht ausschlaggebend. Wesentlich ist das Gesamtbild der wirklich ausgeübten Tätigkeit mit Blick auf die Unternehmensstruktur, ungeachtet der Funktionsbezeichnung oder der Ausbildung der betreffenden Person. Entscheidend sind die Umstände des Einzelfalls. Nach dem Sinn der für Arbeitnehmer mit höherer leitender Tätigkeit statuierten Ausnahme ist die Vorschrift eng auszulegen (BGE 126 III 337 E. 5a mit Hinweisen). Ausschlaggebend sind die Entscheidbefugnisse auf Grund der Stellung und Verantwortung im Betrieb (BGE 98 Ib 344 E. 2 mit Hinweis), etwa mit Bezug auf Einstellung und Einsatz des Personals, die Einteilung der Arbeitszeiten im Unternehmen (nicht nur der eigenen und der unmittelbar unterstellten Mitarbeiter), die Lohnpolitik oder die Möglichkeit, selbständig die Jahresziele des Unternehmens oder eines Bereichs festzusetzen. Blosse Kaderzugehörigkeit reicht jedenfalls nicht aus, um die Anwendung des Arbeitsgesetzes auszuschliessen (zum Ganzen Urteil 4A_258/2010 vom 23. August 2010 E. 1). Es verbietet sich, schlicht auf die von den Parteien im Vertrag, Arbeitszeugnis oder einer Personalordnung verwendeten Begriffe abzustellen. Der rechtlichen Würdigung ist vielmehr die tatsächliche Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses zugrunde zu legen (Urteil 4A_38/2020 vom 22. Juli 2020 E. 4.1 mit Hinweisen).

 

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Autor: Nicolas Facincani

 

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