Das Bundesgericht hatte kürzlich einen Fall zu entscheiden (BGer 4A_379/2022 vom 28. Juni 2023), bei welchem die Arbeitslosenversicherung die Lohnansprüche eines Arbeitnehmers von der Arbeitgeberin geltend machte, nachdem diese den Vertrag – nach verhängtem Ausübungsverbot aufgrund der Covid-19-Pandemie – gestützt auf Irrtum (Art. 23 ff. OR) aufgelöst hatte.

Dem Urteil liegt der folgende Sachverhalt zugrunde:

 

Sachverhalt

Die A.SA (Arbeitgeberin) hatte B (Arbeitnehmer) mit einem befristeten Arbeitsvertrag vom 1. Februar 2020 bis zum 31. Oktober 2020 in einem 50% Pensum bis Ende April, danach zu 100%, als Kapitän angestellt. Am 17. März 2020 verboten die kantonalen sowie die Bundesbehörden die Durchführung von Touristen-, Event- und Spezialseeregatten auf Booten. Am 18. März 2020 hatte die Arbeitgeberin sämtliche Arbeitsverträge mit den Arbeitnehmern, u.A. auch denjenigen von B, für ungültig erklärt und suspendiert („[…] alla revisione di tutti i contratti stagionali, la hui efficacia è da considerersi temporaneamente sospesa“). Die Arbeitgeberin hatte mit Schreiben vom 31. März 2020 den Arbeitsvertrag gestützt auf Art. 31 Abs. 1 OR für ungültig erklärt und den Arbeitnehmer von seinen vertraglichen Pflichten befreit.

Die Arbeitslosenkasse Lugano klagte von der Arbeitgeberin CHF 19’825.30 ein, der Betrag, welcher den Lohnansprüchen von B. zwischen April und Oktober 2020 entsprach.

[Exkurs: Aufgrund der Suspendierung der Arbeitsverträge wandte sich B an die Arbeitslosenkasse Lugano. Diese bezahlte die Arbeitslosenentschädigung an B gestützt auf Art. 29 Abs. 1 AVIG. Folglich sind die Lohnansprüche ex lege auf die Arbeitslosenkasse übergegangen. Dies ergibt sich aus Art. 29 Abs. 2 AVIG.]

Am 8. Juni 2020 hob der Bundesrat das Verbot zur Ausübung der arbeitsvertraglich vereinbarten Tätigkeit wieder auf.

 

Instanzenzug

Die Forderungsklage der Arbeitslosenkasse wurde durch den Pretore die Lugano (1. Instanz) gutgeheissen. Die Camera Civile del Tribunale d’appello del Cantone Ticino (2. Instanz) wies die Berufung der Arbeitgeberin ab und stütze die Erwägungen der ersten Instanz. Insbesondere verneinte das Appellationsgericht die von der Arbeitgeberin behauptete Ungültigkeit des Vertrages. Die Arbeitgeberin stütze sich auf den wesentlichen Irrtum nach Art. 24 Abs. 1 Ziff. 4 OR, wonach eine normale Bootssaison dem Arbeitnehmer bekannt gewesen wäre und als wesentliche Vertragsbedingung erachtet worden sei.

Das Appellationsgericht vertrat die Auffassung, dass der Vertrag bis Oktober in Kraft geblieben sei, da die Beklagte keinen grundlegenden Irrtum begangen habe, da die Erwartung eines normalen Beginns der touristischen Saison wie jedes Jahr, indikativ ab April, mit der Möglichkeit der Durchführung von planmässigen touristischen Fahrten, Veranstaltungsfahrten und Sonderfahrten nur eine enttäuschte Erwartung darstelle, die nicht geeignet sei, den Vertrag für ungültig zu erachten (vgl. E. 5.1).

Das Appelationsgericht stellte weiter fest, dass sich die Arbeitgeberin im Sinne von Art. 324 Abs. 1 OR in Verzug befand, da sie es unterlassen hatte, dem Arbeitnehmer die Rückkehr an den Arbeitsplatz zu gestatten, und zwar nicht erst ab dem 8. Juni 2020, als das Verbot der genannten Tätigkeiten beendet war, sondern bereits ab dem 1. April 2020, da das genannte Verbot zum Geschäftsrisiko des Arbeitgebers gehört habe.

 

Bundesgericht

Zunächst machte das Bundesgericht diverse Ausführungen zu Art. 24 OR, wonach es bestätigte, dass ein wesentlicher Irrtum nicht nur aus subjektiver Sicht vorliegen muss, sondern auch objektiv. In Bezug auf ein künftiges Ereignis sei für einen wesentlichen Irrtum einerseits erforderlich, dass die irrende Partei den Eintritt des künftigen Ereignisses irrtümlich für sich gehalten hat und andererseits die andere Partei nach Treu und Glauben im Geschäftsverkehr erkennen konnte, dass diese Gewissheit einen Bedingung des Vertrages war:

„Con riferimento a un evento futuro, affinché possa essere riconosciuto un errore essenziale è da un lato necessario che la parte in errore abbia inesattamente presupposto sicuro il verificarsi di un risultato futuro e, dall’altro, che secondo la buona fede negli affari, la controparte abbia potuto ravvisare che questa certezza costituiva una condizione del contratto; deve pertanto trattarsi di un errore su un elemento oggettivo ed essenziale del contratto […]“ (vgl. E. 6.1.1).

Das Argument, dass der Ausbruch einer Pandemie nicht vorhersehbar gewesen sei und sich die Arbeitgeberin deshalb in einem Irrtum befand liess das Bundesgericht nicht gelten. Die blosse Annahme, die Tourismussaison werde künftig gut verlaufen, stellt lediglich eine optimistische Erwartungshaltung der Arbeitgeberin dar. Eine Nichterfüllung geht zulasten der Arbeitgeberin:

„La possibilità di impiegare un lavoratore durante tutto il periodo in cui vige un contratto di lavoro di durata determinata, senza che si verifichino circostanze che gli impediscono di svolgere l’attività per cui è stato assunto, è unicamente una supposizione (ottimistica) del datore di lavoro, il cui mancato realizzarsi va, per la sua stessa natura, a carico di quest’ultimo.“ (vgl. E. 6.1.2)

Andererseits gab das Bundesgericht der Arbeitgeberin Recht, was die Auflösung des Arbeitsvertrages angeht. Es ergebe sich nämlich aus dem vom Kantonsgericht festgestellten und dem vorliegenden Urteil zugrunde gelegten Sachverhalt, dass der Arbeitnehmer die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Abschluss von Handlungen akzeptiert hat. Aus dem angefochtenen Entscheid gehe nämlich nicht hervor, dass er der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nach Erhalt des Kündigungsschreibens vom 31. März 2020 widersprochen habe:

„In concreto, dalla fattispecie accertata dalla Corte cantonale e posta a fondamento della presente sentenza emerge che il lavoratore ha accettato per atti concludenti la risoluzione del contratto di lavoro. Infatti dalla decisione impugnata non risulta che egli si sia opposto allo scioglimento del rapporto di lavoro dopo aver ricevuto lo scritto del 31 marzo 2020 di invalidazione del contratto.“ (vgl. E.6.2.2)

Letztlich erinnerte das Bundesgericht im zitierten Urteil an die Besonderheiten der Covid-19-Pandemie und der damit verbundenen Verbote bestimmter Tätigkeiten: Während die vorzeitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses in der Regel nachteilig für den Arbeitnehmer sei, weil er seinen Lohnanspruch verliert, zeige sich die Praxis – auch durch dieses Urteil – anders. Die einvernehmliche Auflösung ermöglichte dem Arbeitnehmer einer anderen entgeltliche Tätigkeit nachzugehen oder – wie vorliegend – einen Antrag bei der Arbeitslosenversicherung zu stellen:

„Per il dipendente sussisteva pertanto il rischio di rimanere vincolato alla datrice di lavoro senza che questa fosse obbligata a versargli il salario. Con lo scioglimento del contratto di lavoro di comune accordo, il lavoratore ha acquisito la possibilità di poter esercitare un’altra attività rimunerata o, come pare essere accaduto in concreto, di rivolgersi con successo all’assicurazione contro la disoccupazione per ottenere le relative indennità.“ (vgl. 6.2.2)

Im Ergebnis hiess das Bundesgericht die Beschwerde gut, hob die Klage der Arbeitslosenversicherung auf und wies die Sache zur Neubeurteilung an die 2.Instanz zurück.

 

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Autoren: Nicolas Facincani Matteo Ritzinger

 

 

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