Im Rahmen der Motion 24.4202 sollte der Bundesrat beauftragt werden, einen Entwurf zur Änderung des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (Art. 5 Abs. 2) und des Bundesgesetzes über die direkte Bundessteuer (Art. 17 Abs. 1) vorzulegen, der vorsieht, dass die im Gastgewerbe erhaltenen Trinkgelder nicht mehr zum massgebenden Lohn gezählt und nicht mehr der Einkommenssteuer unterliegen.

Vertretet sind Trinkgelder vor allem in der Gastronomie. Seit Abschluss des ersten Landes-Gesamtarbeitsvertrag für die Gastronomie (L-GAV) 1974 ist die Bedienung im Preis enthalten. Das bedeutet aber nicht, dass auch die Trinkgelder inbegriffen sind. Vielmehr ist es immer noch üblich, in Gastronomiebetrieben Trinkgeld zu geben. Hochrechnungen zeigen, dass in der Schweiz pro Jahr über eine Milliarde Franken Trinkgeld gegeben wird. Im Durchschnitt wurde in den Jahren 2021 und 2022 Trinkgeld in der Höhe von ca. 5,7 Prozent gemessen am gesamten Rechnungsbetrag bezahlt. Geht man von Personalkosten von 40 Prozent des Umsatzes der Gastwirtschaft aus, was sehr hochgerechnet ist, beträgt das Trinkgeld pro Mitarbeitenden rund 14 Prozent des Lohnes.

 

Aktuelle Rechtslage

Jedes Entgelt, das ein Arbeitnehmer für die geleistete Arbeit erhält, unterliegt nach Art. 5 Abs. 2 AHVG der Beitragspflicht. Als Entgelt gelten alle Vergütungen, die einen wirtschaftlichen Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis aufweisen, unabhängig davon, ob sie von der Arbeitgeberin oder von einem Dritten ausgerichtet werden, wie das Bundesgericht festgehalten hat (BGE 137 V 321 E.2.1). Solche Beträge sind auch als Einkommen zu versteuern.

Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) hält in Ziffer 2044 ff. der «Wegleitung über den massgebenden Lohn in der AHV, IV und EO (WML)» fest: «Trinkgelder und Bedienungsgelder gehören nur soweit zum massgebenden Lohn, als sie einen wesentlichen Teil des Lohnes darstellen.»

Aufgrund des Umfanges der Trinkgelder in der Gastronomie dürfte eine Abrechnungspflicht wohl in vielen Fällen zu bejahen sein.

 

Begründung der Motion

Die Motion wurde wie folgt begründet:

Gemäss geltendem Recht zählen Trinkgelder zu den steuerbaren Einkünften. Dies ist in Artikel 17 Absatz 1 des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 1990 über die direkte Bundessteuer ausdrücklich vorgesehen. Zudem zählen sie laut Artikel 5 Absatz 2 des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung zum massgebenden Lohn und somit sind darauf Beiträge and die AHV, die IV und die EO zu entrichten. 

 Da Trinkgelder noch bis vor Kurzem üblicherweise in bar bezahlt wurden, konnte der genaue Betrag allerdings nicht ermittelt werden. Mit der Zunahme von Kartenzahlungen können Trinkgelder nun immer besser nachverfolgt werden. Das BSV beabsichtigt daher, bis zum Herbst festzulegen, welche Regeln befolgt werden müssen, um die gesetzlichen Vorgaben umzusetzen. 

Diese Regeln könnten sich jedoch als übertrieben erweisen und für KMUs im Gastgewerbe zu einer starken Zunahme der Bürokratie führen. Dabei ist Trinkgeld ein oftmals nur kleines Zeichen der Wertschätzung, die ein Gast einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter entgegenbringt. In Zeiten des Fachkräftemangels, der für das Gastgewerbe nach wie vor eine grosse Herausforderung darstellt, würde die Besteuerung von Trinkgeldern dazu beitragen, die gesamte Branche noch stärker zu benachteiligen.

 

Ablehnung der Motion durch den Bundesrat

Der Bundesrat beantragt die Ablehnung der Motion: Trinkgelder würden nur dann zum für die AHV massgebenden und beitragspflichtigen Lohn, wenn sie einen wesentlichen Anteil des Arbeitsentgelts ausmachten (Art. 5 Abs. 2 des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung, AHVG; SR 831.10). Dies gelte auch für die anderen Sozialversicherungen. Seit die Bedienung in der Gastronomie und Hotellerie im Preis inbegriffen sei, sei als Trinkgelder bezeichnete Leistungen der Kunden (sog. overtips) freiwillig. Es sei davon auszugehen, dass sie in der Regel keinen wesentlichen Anteil des Arbeitsentgelts ausmachen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts müssten Trinkgelder zudem überprüfbar sein, um zum massgebenden Lohn gezählt zu werden. Im Ergebnis würden heute nur ausnahmsweise Beiträge auf Trinkgeldern erhoben, nämlich dann, wenn diese in der Buchhaltung der Arbeitgebenden erfasst sind und das Kriterium der Wesentlichkeit offensichtlich erfüllt ist. Die Praxis bei den Einkommenssteuern richte sich nach dem Sozialversicherungsrecht.

Die aktuelle Rechtslage und Praxis bieten gemäss Bundesrat weder für die Durchführungsorgane der Sozialversicherungen und die Steuerbehörden noch für die Arbeitgebenden besondere Umsetzungsprobleme. Sie liessen den Behörden den notwendigen Handlungsspielraum, um sachgerecht auf die tatsächliche Situation in den Unternehmen reagieren zu können. Gleichzeitig würden sie sicherstellen, dass in Betrieben, in denen besonders hohe Trinkgelder bezahlt werden, darauf Beiträge und Steuern erhoben werden können. Die geltenden gesetzlichen Grundlagen liessen zudem die Berücksichtigung des elektronischen Zahlungsverkehrs bereits heute zu (vgl. Antwort des Bundesrates auf das Postulat Quadranti 18.3790 «Umgang mit Trinkgeldern in Zeiten starker Zunahme des Gebrauchs elektronischer Zahlungsmittel»). Entgegen der Aussage in der Begründung der Motion seie kurzfristig keine Regeln zu erwarten. Dies hindere die Verwaltung jedoch nicht daran, Überlegungen zur aktuellen Praxis anzustellen und sich darüber auszutauschen.

Eine generelle Befreiung von Trinkgeldern von der Beitrags- und Steuerpflicht würde jedoch einen finanziellen Anreiz schaffen, die Bedienung wieder vermehrt über Trinkgelder entschädigen zu lassen. Dies könnte sich negativ auf die Lohnentwicklung auswirken. Zudem würde die soziale Absicherung von Arbeitnehmenden, die in Betrieben mit hohen Trinkgeldern arbeiten, geschmälert.

Eine Sonderregelung allein für die Gastronomie und Hotellerie hätte zudem grosse Abgrenzungsprobleme und Rechtsunsicherheit für die Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden zur Folge. Auch wäre damit eine sachlich nicht begründbare Ungleichbehandlung im Verhältnis zu vergleichbaren Branchen (z. B. Taxi- oder Coiffeurgewerbe) verbunden.

 

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Autor: Nicolas Facincani

 

 

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