Das Bundesgericht hatte sich im Urteil 9C_469/2021 vom 8. März 2022 mit der Frage zu befassen, ob die Teilnahme an Parlaments- und/oder Kommissionssitzungen einer Frau, die Mutterschaftsentschädigung enthält, zum Ende des Anspruchs auf diese Entschädigung führt.

 

Die Mutterschaftsentschädigung und deren Ende

Frauen haben nach der Geburt eines Kindes während 14 Wochen Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung (zum Mutterschaftsurlaub siehe etwa Marc Prinz/Gian Geel, in: Etter/Facincani/Sutter (Hrsg.), Arbeitsvertrag, Art. 329f N 1 ff.). Gemäss Art. 16d Abs. 3 EOG endet der Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung vorzeitig, wenn die Mutter ihre Erwerbstätigkeit wiederaufnimmt oder wenn sie stirbt. Art. 25 der Erwerbsersatzverordnung (EOV; SR 834.11; entspricht bis auf den neuen Einschub „der Mutter“ dem bis am 31. Dezember 2020 in Kraft gestandenen aArt. 25 EOV) ergänzt das Gesetz dahingehend, dass der Anspruch der Mutter auf Entschädigung am Tag der Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit unabhängig vom Beschäftigungsgrad endet.

 

Abstimmung im Parlament

Nationalrätin Kathrin Bertschy bezog seit der Geburt ihres Kindes im Dezember 2018 Mutterschaftsentschädigung. In der März-Session 2019 nahm an einzelnen Kommissionssitzungen und Abstimmungen im Nationalrat teil. Deswegen wurde ihr die Mutterschaftsentschädigung ab 4. März 2019 durch die Ausgleichskasse gestrichen.

Die Nationalrätin macht im Rahmen der Verfahren im Wesentlichen geltend, die Teilnahme an Parlaments- und Kommissionssitzungen sei nicht einer Erwerbstätigkeit im Sinne von Art. 16d EOG gleichzustellen. Selbst wenn das Ausüben eines politischen Mandates als Erwerbstätigkeit angesehen würde, müsste ihr Anspruch ab 31. März 2019 wieder aufleben. Mit der nachfolgenden Beendigung der aufgenommen Tätigkeit sei ab 31. März 2019 ein weiterer Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung ausgewiesen. Das kantonale Gericht sei davon ausgegangen, dass diese mit der Wiederaufnahme der Parlamentstätigkeit ende und somit auch der Anspruch auf das Taggeld, das für die Erwerbstätigkeit im privatwirtschaftlichen Bereich gewährt worden sei. Dieses Ergebnis sei willkürlich und gehe auf eine falsche Gesetzesauslegung zurück. Die Mutterschaftsentschädigung sei zumindest unter Berücksichtigung der privatwirtschaftlichen Tätigkeit weiterhin zu gewähren.

 

Beurteilung durch die Vorinstanz

Die Vorinstanz (Verwaltungsgericht des Kantons Bern – (200 20 625 EO)) erwog, die Mutterschaftsentschädigung könne nur auf das Einkommen ausgerichtet werden, das mit einer Erwerbstätigkeit – die das Parlamentsmandat der Beschwerdeführerin darstelle – erzielt werde. Inwiefern der Begriff der Erwerbstätigkeit im AHVG ein anderer sein solle als im Bundesgesetz über den Erwerbsersatz (Erwerbsersatzgesetz [EOG]; SR 834.1), sei nicht ersichtlich, zumal das EOG explizit auf das AHVG verweise. Es stehe fest, dass die Nationalrätin ab dem 4. März 2019 an Sitzungen teilgenommen, dafür eine volle Entschädigung bezogen und mithin ihre Erwerbstätigkeit ab diesem Zeitpunkt wieder aufgenommen habe. Selbst wenn sie bis am 30. März 2019 ihrer selbstständigen Arbeit nicht nachgegangen sei, entfalle der gesamte Taggeldanspruch ab dem 4. März 2019. Ein Wiederaufleben der Mutterschaftsentschädigung sei gesetzlich nicht vorgesehen. Das kantonale Gericht erkannte weiter, eine Erwerbsaufnahme mit einem geringfügigen Lohn, der im Kalenderjahr Fr. 2300.- nicht übersteige (Art. 34d Abs. 1 der Verordnung über die Alters- und Hinterlassenenversicherung [AHVV]; SR 831.101), beende den Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung zwar nicht. Der Beschwerdeführerin seien jedoch im März 2019 für die Vorbereitung der Ratsarbeit Fr. 2166.65 und für die Teilnahme an der Frühlingssession Taggelder in der Höhe von Fr. 4840.- und damit mehr als Fr. 2300.- ausgerichtet worden. Da der Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung mit der Wiederaufnahme der Parlamentstätigkeit am 4. März 2019 geendet habe, seien die vom 4. bis 30. März 2019 ausgerichteten Taggelder zurückzuzahlen.

 

Bundesamt für Sozialversicherungen – BSV

Im Rahmen des Verfahrens vor Bundesgericht bracht das BSV sodann vor, die parlamentarische Tätigkeit stelle im AHV-rechtlichen und somit auch im Sinne des EOG eine Erwerbstätigkeit dar. An den Sitzungen des Rats könnten sich die National- oder Ständeräte nicht durch eine andere Person vertreten lassen. Dies werde aber auch nicht angestrebt, weil eine Vertretung nicht dem Willen der Wählerschaft entsprechen würde. Würde diese Tatsache als Argument verwendet, um Art. 16d EOG hier nicht anzuwenden, fände eine Aushöhlung dieser Regelung statt und der Wille des Gesetzgebers würde damit übergangen. Die Ausübung eines politischen Mandates während des Mutterschaftsurlaubs komme daher einer vorzeitigen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit im Sinne von Art. 16d EOG gleich. Daraus und aus den Erläuterungen zu dieser Gesetzesbestimmung gehe klar hervor, dass der einmal beendete Anspruch nicht wieder aufleben könne. Die vorzeitig aufgenommene Erwerbstätigkeit beende den Anspruch integral und somit auch in Bezug auf die privatwirtschaftliche Erwerbstätigkeit der Nationalrätin.

 

Beurteilung durch das Bundesgericht – Urteil 9C_469/2021 vom 8. März 2022 

Im Rahmen des bundesgerichtlichen Verfahrens stellten sich verschiedene Fragen:

  • Stellt das Parlamentsmandat eine Erwerbstätigkeit dar?
  • Lebt der Anspruch nach dem 31. März wieder auf?
  • Was ist mit dem Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung für die privatwirtschaftlichen Tätigkeiten?

 

Parlamentsmandat als Erwerbstätigkeit

Für das Bundesgericht stellt ein Parlamentsmandat eine Erwerbstätigkeit dar. Daran ändere nichts, dass sich die Nationalrätin bei der Ausübung ihres politischen Mandats nicht vertreten lassen und das demokratische Recht der Mitwirkung nur durch eine effektive Präsenz wahrnehmen kann, wie sie rügt.  Es sei konsequent, wenn die Wiederaufnahme eben dieser Tätigkeit grundsätzlich den Anspruch gemäss Art. 16d Abs. 3 EOG beenden lässt.

 

Anspruch nach dem 31. März 2019

Auch nach dem 31. März 2019 lebt der Anspruch auf Entschädigung nicht wieder auf:

Mit dem klaren Wortlaut von Art. 16d Abs. 3 EOG lässt sich ein Wiederaufleben des Anspruchs nicht begründen. Auch fehlen Hinweise in den Materialien darauf, dass der Gesetzgeber ein solches gewollt hätte. So hat die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates im Bericht vom 3. Oktober 2002 zu aArt. 16d zweiter Satz festgehalten, dass eine Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit immer zur Beendigung des Anspruchs führe, auch wenn die Arbeit nur teilweise wieder aufgenommen werde. Eine solche Lösung trage dazu bei, dass der bezahlte Mutterschaftsurlaub von der Mutter auch voll ausgeschöpft werde (BBl 2002 7546). Der Mutterschaftsurlaub solle nicht nur zur Erholung der Mutter von Schwangerschaft und Niederkunft dienen, sondern ihr auch die nötige Zeit einräumen, sich in den ersten Monaten intensiv um ihr Neugeborenes zu kümmern (BBl 2002 7545). In seiner Stellungnahme vom 6. November 2002 zum Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit vom 3. Oktober 2002 (Parlamentarische Initiative, Revision Erwerbsersatzgesetz, Ausweitung der Erwerbsersatzansprüche auf erwerbstätige Mütter [Triponez Pierre], Ziff. 2.2 S. 3) wies der Bundesrat darauf hin, dass der Schutz der Mutterschaft eine unverzichtbare Aufgabe der staatlichen Gemeinschaft sei. Es gehe dabei um die Verwirklichung von wichtigen familien-, sozial- und gleichstellungspolitischen Anliegen. Nach der Geburt könne und dürfe die Mutter ihrer Erwerbsarbeit nicht nachgehen. Ein Arbeitsunterbruch sei nicht nur nötig, sondern auch vom Bundesgesetz über die Arbeit in Industrie, Gewerbe und Handel (Arbeitsgesetz [ArG]; SR 822.11) vorgeschrieben. Auch dieser Arbeitsunterbruch müsse, ebenso wie ein solcher wegen eines Unfalls oder Militärdienstes, sozial abgesichert sein. Die wirtschaftlichen Folgen dürften nicht ausschliesslich der Mutter und ihrer Familie auferlegt sein. Jeder Mutter sollte – unabhängig von ihren Dienstjahren und von branchenspezifischen Regelungen – ein gleicher und ausreichender, bezahlter Urlaub garantiert sein. Ein solcher stelle ein weiteres Element zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Berufsarbeit dar und sei deshalb auch gleichstellungspolitisch relevant.  

 

Teilzeitarbeit beendet Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung

Auch für die privatwirtschaftliche Tätigkeit endete durch die Abstimmung im Parlament der Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung.

Eine vorzeitig aufgenommene Teilzeitarbeit entspricht einer Erwerbstätigkeit im Sinne von aArt. 16d zweiter Satz EOG, die den Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung beendet (BGE 139 V 250 E. 4.5). Es ist mit Bundesrecht vereinbar, dass aArt. 25 EOV diese Rechtsfolge „unabhängig vom Beschäftigungsgrad“ eintreten lässt. Der Höchstbetrag für geringfügigen Lohn nach Art. 34d Abs. 1 AHVV ist als objektives Kriterium zur Bestimmung der Lohngrenze heranzuziehen, oberhalb welcher der vorzeitig aufgenommene geringfügige Nebenerwerb der Mutter eine Teilerwerbstätigkeit im Sinne von aArt. 16d zweiter Satz EOG darstellt (BGE 139 V 250 E. 4.6). Dass die Beschwerdeführerin diesen Betrag von Fr. 2300.- überschritten hat, steht fest. Somit ist die Vorinstanz zu Recht davon ausgegangen, dass mit der Wiederaufnahme des politischen Amtes, und somit unabhängig von der allfälligen Rückkehr in die selbstständige Tätigkeit, der gesamte Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung endet (siehe auch die bereits erwähnte Medienmitteilung der Staatspolitischen Kommission des Ständerates vom 10. November 2020 zu den Standesinitiativen). Unbehelflich ist wiederum der Verweis der Beschwerdeführerin auf Art. 6 des IAO-Übereinkommens Nr. 183, wonach Frauen während der Abwesenheit von der Arbeit eine Geldleistung erhalten (Ziff. 1), gewährt Art. 16c EOG doch grundsätzlich eine solche. 

 

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Autor: Nicolas Facincani 

 

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