Arbeitsverhinderung des Arbeitnehmers werden durch diesen regelmässig mit einem Arztzeugnis belegt. Bestehen objektive Anhaltspunkte, dass das von einem Arbeitnehmer eingereichte Arbeitszeugnis nicht richtig ist, hat der Arbeitgeber die Möglichkeit, eine Untersuchung bei einem Vertrauensarzt seiner Wahl anzuordnen. Der Arbeitnehmer ist verpflichtet der Aufforderung des Besuches des Vertrauensarztes nachzukommen, dies aufgrund seiner arbeitsrechtlichen Treuepflicht. Zweifel können insbesondere dann bestehen, wenn ein Arztzeugnis aufgrund einer Telefonkonsultation oder mit einer langen Rückwirkung ausgestellt wird.

Verweigert ein Arbeitnehmer den Gang zum Vertrauensarzt zu Unrecht trotz Abmahnung, verliert er seinen Lohnanspruch (BGE 125 III 70, E. 3):

Ob die Arbeitgeberin ihre Lohnfortzahlung mindestens bei begründeten Zweifeln von einer vertrauensärztlichen Untersuchung abhängig machen kann oder ob eine Obliegenheit der Arbeitnehmer, sich auf entsprechende Aufforderung hin einer vertrauensärztlichen Untersuchung zu unterziehen, ausdrücklich vereinbart sein muss, ist in der Lehre umstritten (vgl. STREIFF/VON KAENEL, a.a.O., N. 12 zu Art. 324a/b OR). Jedenfalls war die Klägerin für ihre unverschuldete Arbeitsunfähigkeit im Hinblick auf die Lohnfortzahlung beweisbelastet (STAEHELIN/VISCHER, a.a.O., N. 9 zu Art. 324a OR; REHBINDER, Basler Kommentar, N. 3 zu Art. 324a OR). Die Beklagte konnte daher der Klägerin mitteilen, dass sie an ihrer Arbeitsunfähigkeit zweifelte und ihre Lohnfortzahlung von einer vertrauensärztlichen Untersuchung abhängig machen wolle. Die Aufforderung an die im massgebenden Zeitpunkt noch krankheitsabwesende Klägerin, sich einer vertrauensärztlichen Untersuchung zu unterziehen, kann grundsätzlich nicht als Persönlichkeitsverletzung qualifiziert werden.

 

Beweiswert von Arztzeugnissen

Die Beweislast für die Arbeitsunfähigkeit liegt grundsätzlich beim Arbeitnehmer (Art. 8 ZGB). Die direkte Beweisführung über den Rechtsbegriff der Arbeitsunfähigkeit ist ausgeschlossen. Dies gilt umgekehrt ebenso für die Arbeitsfähigkeit, sofern nicht der entsprechende Tatbeweis in Form der (uneingeschränkten) Arbeitsleistung erbracht wird. Obwohl der Beweis der Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit oder Unfalls – und ausnahmsweise auch derjenige der Arbeitsfähigkeit – in der Regel durch ärztliches Zeugnis erbracht wird, bewirkt dieser Anscheinsbeweis keine Beweislastumkehr. Ein Arztzeugnis stellt kein absolutes Beweismittel, sondern lediglich eine Parteibehauptung dar. Es bleibt eine Frage der Beweiswürdigung, ob die entscheidende Instanz darauf abstellt. Nur aufgrund der Tatsache, dass ein Arbeitnehmer sich nicht gut fühlt oder Kopfschmerzen hat, kann in der Regel noch nicht die Arbeitsunfähigkeit bewiesen werden.

Das Arztzeugnis ist somit ein wichtiges Indiz für Arbeitsunfähigkeit. Wird nur eine Krankheit attestiert, so bedeutet das noch nicht automatisch die Arbeitsunfähigkeit. Dem Wortlaut des Arztzeugnisses kommt daher grosse Bedeutung zu. Das Arztzeugnis ist einer von möglichen Beweisen für die Arbeitsunfähigkeit. Es sind aber grundsätzlich andere Beweise möglich.

Oft wird das Arztzeugnis des Arbeitnehmers, zumindest in der Anfangsphase einer Krankheit durch dessen Hausarzt ausgestellt. Es empfiehlt sich auf Seiten beider Parteien von Spezialisten ausgestellte Arztzeugnisse beizubringen.

 

Wer hat Recht?

Oft kommt es vor, dass sich dann das Arztzeugnis des Arbeitnehmers und dasjenige des Vertrauensarztes widersprechen. In diesem Fall ist es eine Frage der Beweiswürdigung, auf welches Arztzeugnis abgestellt werden soll.

Man könnte versucht sein anzunehmen, dass jeweils der Spezialist Recht bekommen soll. So hat das Bundesgericht in BGer 4A_631/2009 vom 17. Februar 2010 festgehalten, dass es nicht willkürlich sei, auf den Befund des behandelnden Arztes abzustellen:

[…]. En ce qui concerne l’appréciation des preuves et la constatation des faits, l’autorité tombe dans l’arbitraire lorsqu’elle ne prend pas en considération, sans aucune raison sérieuse, un élément de preuve propre à modifier la décision, lorsqu’elle se trompe manifestement sur son sens et sa portée, ou encore lorsque, sur la base des éléments recueillis, elle parvient à des constatations insoutenables (ATF 129 I 8 consid. 2.1; voir aussi ATF 134 V 53 consid. 4.3 p. 62).

Dès le début de son absence, la demanderesse a remis à l’employeuse un certificat médical qu’elle a ensuite renouvelé. Elle a ainsi prouvé de façon adéquate, en principe, l’existence d’un empêchement de travailler et la cause de cet empêchement (Wyler, op. cit., p. 224); cependant, la défenderesse prétend avoir apporté la contre-preuve avec le rapport et le témoignage du docteur B.________. Le rapport se lit comme suit: […].
Selon ses propres déclarations, l’auteur du rapport n’a donc accompli que des investigations partielles, dont le résultat était de plus influencé par le traitement médical déjà intervenu. Le médecin traitant n’a certes pas effectué ni prescrit les examens sans lesquels, d’après le docteur B.________, le diagnostic demeurait sujet à caution. Néanmoins, les constatations de ce dernier praticien n’invalident pas de façon certaine ni catégorique les conclusions du médecin traitant. Les deux médecins émettent des avis différents sur des bases apparemment semblables. Dans ces conditions, le juge du fait peut retenir sans arbitraire que les certificats du médecin traitant expriment la vérité au sujet de l’empêchement de travailler et que la défenderesse a échoué dans la contre-preuve.

 

Entscheid des Arbeitsgerichts Zürich, Entscheid 2018, Nr. 7

In diesem Entscheid hatte sich das Arbeitsgericht mit der Frage zu befassen, ob auf den Hausartz oder auf den Vertrauensarzt abzustellen sei. Wie komplex die Beantwortung dieser Frage sein kann, sollen die Ausführungen des Arbeitsgerichts zeigen, wo im Resultat auf den Hausarzt abgestellt wurde:

Grundsätzlich kann sich die Arbeitgeberin auf das Arztzeugnis des Vertrauensarztes abstützen. Falls dieser keine oder eine geringere Arbeitsunfähigkeit feststellt, als vom behandelnden Arzt festgehalten, so hat das Gericht in der Überprüfung zu beachten, welches der beiden Zeugnisse einen höheren Beweiswert aufweist (PÄRLI/HUG/PETRIK, Arbeit, Krankheit, Invalidität, Bern 2015, S. 112f.). Liegt ein offensichtlich qualifizierteres Arztzeugnis vor, so stellt das Gericht darauf ab: ob ein solches vorliegt, bzw. auf welches Arztzeugnis das Gericht abstellt, bleibt jedoch eine Frage der Beweiswürdigung (ADRIAN STAEHELIN, Zürcher Kommentar, 4. Aufl. 2006, N. 10 zu Art. 324a OR; BGer 8C_619/2014 vomv13. April 2015, E. 3.2.1. m.w.H.).[…]

Dr. A. wie auch Dr. B. haben unter der Strafandrohung von Art. 307 StGB ausgesagt. Dr. A. war zum Zeitpunkt der Einvernahme der Hausarzt der Klägerin und steht zu dieser in einem langjährigen Arzt-Patienten-Verhältnis. Dr. B. wurde von Herrn C. [Anmerkung: dem Geschäftsführer des Beklagten] mit der vertrauensärztlichen Begutachtung beauftragt, verfügt darüber hinaus jedoch über keine Verbindung zum Beklagten. Keiner der Zeugen hat ein direktes Interesse am Ausgang des Verfahrens.

Einleitend ist festzuhalten, dass sich die Klägerin der vom Beklagten veranlassten vertrauensärztlichen Untersuchung in keiner Weise widersetzte und ihren Hausarzt umgehend von der ärztlichen Schweigepflicht entband, damit Dr. B. telefonisch Kontakt mit Dr. A. aufnehmen konnte. Weiter ist zu bemerken, dass der Beklagte trotz Ferienabwesenheit von Dr. B. keinen anderen Vertrauensarzt beizog, sondern daran festhielt diesen als Vertrauensarzt zu beauftragen, was auf den ersten Blick kaum nachvollziehbar erscheint. Wären die Anzeichen, dass ein Arbeitnehmer eine Arbeitsunfähigkeit vortäuscht, derart offensichtlich, wie vom Beklagten geltend gemacht, wäre zu erwarten, dass der Arbeitgeber sich bemüht, eine vertrauensärztliche Untersuchung möglichst zeitnah anzuberaumen. Aufgrund der Bereitschaft des Beklagten, wochenlang zuzuwarten, muss davon ausgegangen werden, dass Dr. B. ein gewisser Ruf vorauseilt. Dahingehend könnte auch die von Herrn C. gemachte Bemerkung, wonach er sich beim Unternehmen D. schlau gemacht habe, welcher Arzt vor Gericht „verheben“ würde, verstanden werden.

Dr. A. stellte, wie bereits erwähnt, der Klägerin während der betreffenden Zeitdauer fünf Arbeitsunfähigkeitszeugnisse aus, wobei er die Klägerin jeweils vor der Ausstellung eines solchen in seiner Praxis sah. Anlässlich der ersten Konsultation erfolgte eine Stuhlprobe, mit welcher ein Infekt ausgeschlossen wurde. Anfänglich wurden der Klägerin zudem Medikamente verschrieben (Temesta, Loperamid). Die Arbeitsunfähigkeit wurde von Dr. A. über die gesamte Zeitdauer mit 100% taxiert. Gemäss den Angaben von Dr. A. setzte sich dieser nachvollziehbar und überzeugend mit den Leiden und den sich daraus ergebenden gesundheitlichen Einschränkungen der Klägerin auseinander. Wie erwähnt kann grundsätzlich auf die von ihm ausgestellten Zeugnisse abgestellt werden, wenn nicht Zweifel an deren Glaubhaftigkeit bestehen.

Dr. B. verfügt über verschiede spezialisierte Aus- und Weiterbildungen im Bereich der Psychotherapie und Psychiatrie, insbesondere im Bereich der Arbeitsfähigkeitsbeurteilung, und ist zudem medizinischer Gutachter der E. Er knüpft seinen Befund, dass die Klägerin im fraglichen Zeitraum mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht arbeitsunfähig war, an „genuin medizinische“ Kriterien. Weiter stellte Dr. B. anlässlich der Einvernahme klar, dass er ein Arbeitsunfähigkeitszeugnis nur ausstelle, sofern eine krankheitswertige Diagnose bestehe. Ob eine solche besteht, entscheide sich einzig gemäss dem Klassifikationssystem ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems).

Diese Ansicht vermag – aufgrund der eingangs erwähnten arbeitsrechtlichen Sicht – nicht zu überzeugen. Das Recht ist in Bezug auf die Konkretisierung der Arbeitsunfähigkeit sowie der Krankheit auf die Medizin angewiesen. Dr. B. wies zurecht auf die Problematik hin, dass die Gleichstellung dessen, was die Medizin als Krankheit betrachtet, nicht ohne weiteres als Krankheit im Rechtssinne zu gelten hat. Gleiches hat für die Arbeitsunfähigkeit zu gelten, vor allem dann, wenn diese an die Krankheitswertigkeit gebunden wird. Im Kern geht es vorliegend somit darum, ob eine wie von Dr. A. gestellte Diagnose (Psychosomatischer Ausnahmezustand in Begleitung einer reaktiven Depression) die gemäss ICD-10 keinen Krankheitswert ausweist (wie im vorliegenden Fall von Dr. B. argumentiert), dennoch eine Arbeitsunfähigkeit gemäss Art. 324a OR zu begründen vermag. Dies ist aus folgenden Über legungen zu bejahen.

Dr. B. gab zwar an, Dr. A. habe ihm keine Diagnose nach ICD-10 nennen können. Er räumte jedoch ein, dass es aus psychosozialen Gründen unzumutbar sein könnte, dass die Klägerin an den Arbeitsort zurückkehrt. Dass er selbst, Dr. B., gemäss seinen Angaben kein Arzt- bzw. Arbeitsunfähigkeitszeugnis ausstellt, solange keine krankheitswertige Diagnose gemäss ICD-10 sowie damit verbundene Funktionseinschränkungen vorliegen, überzeugt in der Gesamtschau nicht. So führte der Zeuge nicht aus, was er im Fall einer nicht krankheitswertigen, arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit ausstellen würde, wenn diese – wie er selbst einräumte –, zu einem zwar nicht anhaltenden, aber mehrtägigen Arbeitsausfall führt.

Auch wenn – im vorstehend umrissenen Ausmass – ein gewisses Verständnis für die vertrauensärztliche Perspektive aufzubringen ist, so ist doch darauf hinzuweisen, dass die Argumentation von Dr. B. nicht stringent ist, wenn er einerseits dem Hausarzt, welcher die Patientin anfänglich und mehrfach sah und somit über einen langen Zeitraum begleitete, vorwirft, dieser habe seine Diagnose bloss auf die subjektiven Schilderungen abgestützt und nicht objektiviert, seinerseits jedoch aufgrund je eines Gesprächs mit dem Hausarzt und der Patientin, sowie dem schriftlichen Bericht der Patientin, nota bene eineinhalb Monate nach Beginn der behaupteten Arbeitsunfähigkeit, ohne weitere Untersuchungen oder Objektivierungen seine Diagnose stellt, überdies rückwirkend für die gesamte Zeitdauer. Es mutet in Anbetracht der zeitlichen Umstände eigentümlich an, wenn der behandelnde Hausarzt in seiner Behandlungsmethode kritisiert wird, ohne dass vom Vertrauensarzt eigene, konkrete und überzeugende Behandlungsmassnahmen benannt werden. Beispielsweise sollte gemäss der Aussage von Dr. B. in vergleichbaren Fällen ein/e Patient/in dem Hausarzt nachweisen, dass ein krankheitswertiger Durchfall vorlag. Dr. B. äusserte sich jedoch nicht dazu, wie dies in der Praxis zu handhaben wäre.

In Anbetracht der Untersuchungszeitpunkte auf der Zeitachse kann im vorliegenden Fall nicht ohne Weiteres – wie vom Beklagten geltend gemacht – davon ausgegangen werden, dass die Aussage des Facharztes diejenige des Allgemeinpraktikers überwiegen muss. Vielmehr ist nach dem Gesagten davon auszugehen, dass der Befund beider Ärzte nach bestem Wissen und Gewissen zustande kam. Dass die Einstellung bezüglich der Ausstellung eines Arbeitsunfähigkeitszeugnisses unter den Ärzten divergiert (vorliegend in Bezug auf den „Krankheitswert“), liegt in der Natur der Sache. Die Schlussfolgerungen des die Klägerin als Patientin behandelnden Arztes sind jedoch insgesamt schlüssig, und der vertrauensärztliche Bericht bzw. die Ausführungen des Vertrauensarztes vermochten diese nicht umzustossen.

Nach dem Gesagten ist nicht dargetan, dass begründete Zweifel am ärztlichen Befund von Dr. A. zu hegen wären, aufgrund derer das Gericht sich über diesen Befund hinwegzusetzen hätte. Der von einem in Bezug auf ein Fachgebiet – an Fachausweisen bzw. Weiterbildungen gemessen – qualifizierteren Arzt, festgestellte Befund hat nicht per se als der qualifiziertere zu gelten. Somit ist – trotz vertrauensärztlichem Bericht mit gegenteiligem Befund – auf die ärztlichen Zeugnisse, welche die Arbeitsunfähigkeit der Klägerin in der betreffenden Zeit belegen, abzustellen.

 

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Autor: Nicolas Facincani

 

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