Zu den klassischen Missbrauchstatbeständen im Rahmen der Kündigung eines Arbeitsverhältnisses gehören diejenigen, welche im Gesetz, Art. 336 OR, aufgeführt sind.
Durch die Gerichte werden stets neue Missbrauchstatbestände geschaffen. Besondere Aufmerksamkeit erregte in letzter Zeit die sog. Alterskündigung. Daneben hat das Bundesgericht auch in den nachfolgenden Fällen eine missbräuchliche Kündigung gesehen (siehe hierzu insbesondere den Beitrag „Der Arbeitgeber war schuld?!“):
- Kündigungen nach unzureichenden Bemühungen bei Konflikten
- Kündigungen mit Mobbing-Background (sofern dem Mobbing – Opfer aufgrund nachlassender Leistung gekündigt wird)
- Art und Weise der Kündigung
- Kündigungen nach Leistungseinbrüchen nach Überlastung
Auch in Entscheid 4A_186/2022 vom 22. August 2022 hatte sich das Bundesgericht mit der Frage zu befassen, ob die Kündigung aufgrund der Art und Weise missbräuchlich war. Es lag der folgende Sachverhalt zugrunde:
Sachverhalt
Der Arbeitnehmer war ausgebildeter Hotelfachmann. Ab 2004 arbeitete er für die Klägerin, vom 1. Oktober 2016 an als „Chief Executive Officer/CEO“. Am Samstag, dem 1. September 2018, stellte der Verwaltungsratspräsident der Beklagten dem Kläger anlässlich einer mündlichen Besprechung die Kündigung von dessen Arbeitsverhältnis unter Einhaltung der vertraglichen Fristen und Termine und unter sofortiger Freistellung in Aussicht. Der Arbeitgeber nannte als Kündigungsgrund, dass das bisherige System mit „Managing Director“, „Chief Executive Officer“ und Delegiertem des Verwaltungsrats zu Gunsten einer Struktur der obersten Führung mit nur zwei Personen aufgegeben werden sollte. Der Arbeitnehmer war dagegen der Auffassung, seine wiederholten Hinweise auf eine unkorrekte oder problematische Bevorzugung einzelner Personen hätten beim Delegierten des Verwaltungsrats der Beschwerdeführerin Unmut ausgelöst.
Das Kantonsgericht Graubünden bejahte das Vorliegen einer missbräuchlichen Kündigung im Sinne von Art. 336 OR.
Urteil der Vorinstanz
Die Vorinstanz machte verschiedene Überlegungen zum Vorliegen einer missbräuchlichen Entlassung:
Zur Alterskündigung
Die Vorinstanz erwog, der Arbeitnehmer sei im Zeitpunkt der Kündigung 14 Jahre im Dienste der Beschwerdeführerin gestanden und 57 Jahre alt gewesen. Damit habe er auf dem Arbeitsmarkt wohl als älterer Arbeitnehmer gegolten. Das Bundesgericht habe zwar erklärt (mit Hinweis auf das Urteil 4A_384/2014 vom 12. November 2014 E. 4.2.2), bei fortgeschrittenem Alter und langer Dienstzeit gelte eine erhöhte Pflicht zur Rücksichtnahme. Es habe diese Aussage jedoch im zitierten Urteil 4A_44/2021 E. 4.3.2 relativiert und festgehalten, Alter und Dienstzeit seien nicht per se ausschlaggebend, sondern bloss Elemente, die im Rahmen einer Gesamtwürdigung zu berücksichtigen seien. Diese Punkte seien daher im Rahmen der Umstände der Kündigung zu würdigen. Allerdings mache der Arbeitnehmer keine besonderen Erschwernisse oder Nachteile geltend, die er aus dem Alter und der Dienstzeit ableite. Diesem Punkt komme daher keine eigenständige Bedeutung zu.
Persönlichkeitsverletzendes Vorgehen der Arbeitgeberin
Als persönlichkeitsverletzend erachtete die Vorinstanz insbesondere die Art der Kommunikation und in diesem Zusammenhang der im Aussenverhältnis entstandene Eindruck. Die an die Mitarbeitenden und die Öffentlichkeit gerichteten Verlautbarungen seien zwar „neutral“ bzw. „minimal positiv“ formuliert gewesen, es werde aber die sofortige Freistellung des Arbeitnehmers kommuniziert mit dem Argument, die neue Organisation solle „schnell umgesetzt“ werden. Damit habe die Arbeitgeberin den Verdacht entstehen lassen, das Arbeitsverhältnis mit dem Arbeitnehmer sei gravierend gestört gewesen. Der Arbeitnehmer sei eine bekannte Figur in der Branche, am Ort und in der ganzen Region. Dass das Vorgehen der Arbeitgeberin den Eindruck habe entstehen lassen, der Arbeitnehmer sei aus welchen (von ihm zu verantwortenden) Gründen auch immer entlassen worden, habe diesen schwer treffen müssen. Auch das Fehlen einer angemessenen Verabschiedung habe den Eindruck verstärkt, der Verwaltungsrat habe den Arbeitnehmer „gefeuert“ oder gar „feuern müssen“.
Verletzung der Treue- und Fürsorgepflicht
Eine Verletzung der Treue- und Fürsorgepflicht erblickte die Vorinstanz weiter auch in der kurzen Überlegungsfrist, die dem Arbeitnehmer gewährt worden sei. Damit sei er unter grösstmöglichen Druck gesetzt worden. Es sei nicht ersichtlich, weshalb ihm nicht mehr Zeit eingeräumt worden sei, um den Vorschlag (auf einvernehmliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses) in Ruhe studieren zu können. Als „weniger gravierend“, wenn auch nicht bedeutungslos, erachtete die Vorinstanz schliesslich, dass der Arbeitnehmer per sofort nicht mehr über das Geschäftstelefon habe verfügen können (über das er wohl auch private Kontakte gepflegt haben dürfte) und auch keinen Zugang zu seinem Büro mehr gehabt habe.
Vor dem Bundesgericht
Der Arbeitgeber brachte vor, die Vorinstanz habe zu Unrecht eine Alterskündigung bejahrt.
Das Bundesgericht verneinte dies: Aus dem angefochtenen Entscheid gehe nicht hervor, dass die Vorinstanz diesem Umstand besonderes Gewicht beigemessen habe. In den (zustimmenden) Kommentierungen des zitierten Urteils 4A_44/2021 würde zutreffend festgehalten, dass auch bei älteren Angestellten eine einzelfallbezogene Betrachtungsweise stattfinden müsse und diese im Vergleich zu andern ähnlich schutzwürdigen Kategorien von Angestellten nicht übermässig zu privilegieren seien (so auch FACINCANI/BRUNNER, BGer 4A_44/2021: Alterskündigung – differenzierte Betrachtung des Einzelfalls notwendig, AJP 2021 S. 1419 ff.). Gerade wenn das Alter und das Dienstalter auch zu einer hohen Position mit entsprechender Verantwortung und gleichzeitig hohem Lohn geführt hätten, müsse es der Arbeitgeberin grundsätzlich ohne Weiteres möglich sein, solche Positionen neu zu strukturieren, wie es auch die Arbeitgeberin mit der Reduktion ihrer Führungsebene von drei auf zwei Personen (unter Streichung der Position des CEO’s) getan habe. Dass sie dabei den jüngeren Mitarbeiter vorzog, der hierarchisch unter dem Arbeitnehmer stand, könne ihr nicht vorgeworfen werden. Gleichzeitig käme in einem solchen Fall, wo es um die oberste Position im Unternehmen geht, von vornherein keine Umplatzierung als Alternative zur Kündigung in Frage.
Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die Vorinstanz zu Unrecht die Art und Weise der Kommunikation und der Kündigung beurteilt habe, da dies gar nicht vom Arbeitnehmer im Berufungsverfahren der kantonalen Instanz gerügt worden sei. Auch Inhaltlich war das Bundesgericht der Auffassung, dass die Art und Weise der Kündigung nicht zu beanstanden sei:
4.4.2. Aber unabhängig davon, ist der Argumentation der Vorinstanz auch inhaltlich nicht zu folgen. Die falsche Sachverhaltsfeststellung erblickt die Beschwerdeführerin darin, dass die Vorinstanz davon ausgegangen sei, (auch) gegenüber der Öffentlichkeit habe sie die Freistellung kommuniziert und mitgeteilt, dass die neue Organisation „schnell umgesetzt“ werden müsse. Von einer Freistellung („damit die neue Struktur schnell umgesetzt werden kann“) sei jedoch nur in der internen Mitteilung an ihre Angestellten die Rede gewesen, nicht aber in der Pressemitteilung. Letzteres trifft zu. Jedoch ist nicht von einer falschen (willkürlichen) Sachverhaltsfeststellung auszugehen. Vielmehr hat die Vorinstanz in ihrer Begründung nicht klar unterschieden zwischen der Medienmitteilung und der internen Kommunikation. Berechtigt ist daher nicht die Sachverhaltsrüge, sondern diejenige bezüglich der rechtlichen Würdigung des festgestellten Sachverhalts. War nämlich nur in der internen Mitteilung von Freistellung die Rede, kann der Beschwerdeführerin daraus von vornherein kein Vorwurf gemacht werden. Wenn die oberste Führungsperson, der CEO, freigestellt wird und er somit ab sofort nicht mehr im Betrieb anwesend ist, ist es zwingend, dass die Angestellten über diese Tatsache informiert werden. Es kann ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass unabhängig von der eigenen Medienmitteilung der Beschwerdeführerin (in der die Freistellung nicht erwähnt wird) die Tatsache der Freistellung in der Öffentlichkeit der Region V.________ bekannt wurde, sei es durch Weitergabe der Information seitens von Angestellten, sei es durch das am Tag nach der Kündigung versandte E-Mail der Ehefrau des Beschwerdegegners. Daraus kann aber keine der Beschwerdeführerin anzulastende persönlichkeitsverletzende Kommunikation abgeleitet werden. Eine andere Frage ist, ob die Freistellung als solche (zusammen mit weiteren Elementen) die Missbräuchlichkeit der Kündigung zu begründen vermag (dazu nachfolgend E. 4.5.3).
4.5. Die Begründung der Vorinstanz läuft denn auch vor allem darauf hinaus, dass der abrupte Abgang des Beschwerdegegners – gemeint dessen Freistellung und das Fehlen einer angemessenen Verabschiedung – und die in der Aufhebungsvereinbarung vorgesehene Abgabe von Mandaten sowie der Verkauf der Aktie (vgl. E. 4.2.2 hiervor) den Verdacht von nicht offengelegten Problemen geweckt habe, was den Beschwerdegegner als in der Region bekannte Persönlichkeit schwer getroffen habe. So führte die Vorinstanz betreffend die angemessene Verabschiedung des Beschwerdegegners aus, „ihr Fehlen verstärkte den Eindruck, der Verwaltungsrat habe den [Beschwerdegegner] ‚ gefeuert ‚ oder gar ‚ feuern müssen ‚“). Die Vorinstanz argumentiert also mit der öffentlichen Wahrnehmung und dem dem Beschwerdegegner entstandenen Gesichtsverlust in der Öffentlichkeit. Auch der Beschwerdegegner selbst geht davon aus, dass dies der zentrale Punkt ist.
4.5.1. Vorerst ist hinsichtlich der nicht durchgeführten Verabschiedung, wie bereits betreffend die Kommunikation, zu kritisieren, dass die Vorinstanz nicht unterscheidet zwischen der Wahrnehmung im Betrieb einerseits und in der Region andererseits. Es ist nicht ersichtlich – jedenfalls hat die Vorinstanz dazu keine Feststellungen getroffen – dass in der Öffentlichkeit das Fehlen eines Abschiedsanlasses für den Beschwerdegegner bekannt war, was vorausgesetzt wäre, um zu einer (breiten) Rufschädigung des Beschwerdegegners beitragen zu können. Vor allem ist nicht ersichtlich, dass der Beschwerdegegner selber so argumentiert hätte. Die Vorinstanz fasst denn auch das diesbezügliche Vorbringen des Beschwerdegegners nicht so zusammen. Auch die Hinweise des Beschwerdegegners auf seine Vorbringen im kantonalen Verfahren (Klage Rz. 7; Replik Rz. 25, 26, 27 und Berufung Rz. 4, 8, 9 und 10) gehen in eine andere Richtung. Er berief sich dort nämlich darauf, dass die fehlende Verabschiedung eine Respektlosigkeit ihm gegenüber belege (vgl. dazu unten E. 4.6). Er machte aber nicht geltend, es sei dadurch in der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden, er sei aufgrund schwerwiegender Vorfälle „gefeuert“ worden.
4.5.2. […]
4.5.3. Schliesslich kann der Vorinstanz auch hinsichtlich der Freistellung nicht gefolgt werden. Das Bundesgericht hat die Kündigung einer Heimleiterin, die freigestellt worden war und sich im Betrieb nur noch in Begleitung bewegen durfte, als missbräuchlich qualifiziert. Es stellte aber fest, in diesem Fall ergebe sich die Missbräuchlichkeit aus dem Zusammenspiel der genannten Umstände der Kündigung und der Kündigungsgründe (Urteil 4A_92/2017 vom 26. Juni 2017 E. 2.4). In einem kurz darauf ergangenen Entscheid, in dem es um einen Betriebsleiter ging, erachtete es die Freistellung in Verbindung mit einem Hausverbot als nicht genügend, um eine missbräuchliche Kündigung zu begründen. Sollte der betreffende Beschwerdeführer dieses Vorgehen als subjektiv verletzend empfunden habe, genüge dies nicht für die Annahme einer missbräuchlichen Kündigung (zit. Urteil 4A_280/2017 E. 4.4). Das Gleiche ist auch hier festzustellen. Das gilt umso mehr, als in der heutigen Arbeitswelt bei Spitzenpositionen mit sehr hohen Löhnen – die Vorinstanz stellte fest, dass der eingeklagte Monatslohn nicht der Realität entspreche, da dazu auch die Lohnzulagen und der Bonus berücksichtigt werden müssten – Entlassungen in Kombination mit Freistellungen im Rahmen von Umstrukturierungen nichts Unübliches sind.
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Autor: Nicolas Facincani