Art. 324a OR sieht als Ausnahme vom Prinzip „ohne Arbeit kein Lohn“ vor, dass unter bestimmten Voraussetzungen der Lohn weiterhin geschuldet ist, auch wenn der Grund für fehlende Arbeitsleitung auf der Seite des Arbeitnehmers liegt.

 

Voraussetzungen für den Lohnanspruch

Der Lohnanspruch nach Art. 324a OR besteht nur, sofern die folgenden Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind:

  • Dauer des Arbeitsverhältnisses: Es liegt ein unbefristetes Verhältnis vor, welches bereist mehr als drei Monate gedauert hat oder es liegt ein befristetes Arbeitsverhältnis vor, welches für mehr als drei Monate abgeschlossen wurde. Liegt ein unbefristetes Arbeitsverhältnis von mehr als drei Monaten vor, ist die Voraussetzung erfüllt, auch wenn der subjektive Grund gleich in der ersten Woche eintritt. Anders bei den unbefristeten Arbeitsverhältnissen. Hier würde im Fall einer krankheitsbedingten Absenz in der ersten Arbeitswoche kein Anspruch nach Art. 324a OR begründet werden.
  • Subbjektive Gründe: Die Verhinderung des Arbeitnehmers muss auf subjektive (d. h. persönliche) Gründe zurückzuführen sein.
  • Fehlendes Verschulden: Die Verhinderung des Arbeitnehmers muss unverschuldet sein. Fehlendes Verschulden bedeutet hier fehlendes «grobes Verschulden». Auch bei Sportunfällen wird hingegen angenommen, dass kein (grobes) Verschulden vorliegt. Verschulden wird nur angenommen, wenn die elementarsten Verhaltensregeln der betreffenden Sportart verletzt werden. Bei absichtlichem oder grobfahrlässigem Herbeiführen der Arbeitsunfähigkeit fällt hingegen die Pflicht zur Lohnfortzahlung weg.

 

Dauer des Lohnanspruches

In der Praxis hat sich eingebürgert, dass die Gerichte in der Schweiz für die Bestimmung der Dauer der Lohnfortzahlungspflicht Skalen anwenden. Dabei werden je nach Kanton die Basler, Berner oder Zürcher Skala angewendet. Diese Skalen bestimmen die Dauer der Lohnfortzahlungspflicht (100 % Lohn) in Abhängigkeit der Anzahl Dienstjahre.

 

BGer 4A_221/2025 vom 11. September 2025

Im Entscheid BGer 4A_221/2025 vom 11. September 2025 hatte sich das Bundesgericht mit der Anwendbarkeit von Art. 324a OR auseinanderzusetzen.

Ein Servicetechniker hatte 2022 in alkoholisiertem Zustand einen Verkehrsunfall verursacht, der zum sofortigen Entzug des Führerausweises und zu seiner späteren Verurteilung führte. Anschliessend an den Unfall wurde er fürsorgerisch zur stationären Behandlung der diagnostizierten Alkoholabhängigkeit eingewiesen und war demzufolge an der Arbeitsleistung verhindert. Das Kantonsgericht des Kantons Luzern bestätigte 2024 einen Anspruch des Betroffenen auf Lohnfortzahlung während der Arbeitsverhinderung gestützt auf Art. 324a OR, da diese krankheitsbedingt war.

 

Die unverschuldete Arbeitsverhinderung

Im vorliegenden Fall stellte sich insbesondere die Frage, ob hier eine unverschuldete Arbeitsverhinderung vorlag oder nicht.

 

Alkohol- und Drogensucht als unverschuldete Verhinderung (E. 2.3.1)

Der Anspruch auf Lohnfortzahlung nach Art. 324a Abs. 1 OR setzt voraus, dass der Arbeitnehmer aus Gründen, die in seiner Person liegen, wie Krankheit, Unfall, Erfüllung gesetzlicher Pflichten oder Ausübung eines öffentlichen Amtes, ohne sein Verschulden an der Arbeitsleistung verhindert ist. Die Aufzählung der Gründe ist nicht abschliessend. Eine Arbeitsverhinderung im Sinne der erwähnten Bestimmung kann sich auch aus äusseren Umständen ergeben, etwa durch eine fürsorgerische Unterbringung (Art. 426 ZGB) oder eine angeordnete Untersuchungshaft, sofern dem Arbeitnehmer kein Verschulden vorgeworfen werden kann. Beim vorliegend interessierenden Grund der Krankheit bildet nicht die gesundheitliche Beeinträchtigung als Folge einer Krankheit an sich die Voraussetzung für den Anspruch auf Lohnfortzahlung, sondern die daraus resultierende Arbeitsunfähigkeit bzw. Unzumutbarkeit der Fortsetzung der Arbeit. Erforderlich ist ein Kausalzusammenhang zwischen der krankheitsbedingten Beeinträchtigung und der Arbeitsunfähigkeit.

Anders als im Sozialversicherungsrecht wird im privaten Arbeitsrecht für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit nicht auf die Fähigkeit abgestellt, im bisherigen Beruf zumutbare Arbeit zu leisten. Im Anwendungsbereich von Art. 324a OR ist vielmehr in erster Linie der Inhalt der vertraglichen Vereinbarung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber massgebend (PÄRLI/PETRIK, a.a.O., Rz. 155).

Die Frage, ob eine Arbeitsverhinderung infolge von Alkohol- oder Drogensucht als unverschuldet zu betrachten ist, muss nach den Besonderheiten des einzelnen Falls beurteilt werden. Gleitet jemand über längere Zeit gleichsam unmerklich in eine immer tiefer werdende Abhängigkeit ab, ist grundsätzlich von fehlendem Verschulden auszugehen. Alkohol- und Drogensucht gelten heute als Krankheit, wobei auch primäre Suchterkrankungen, d.h. solche ohne vorangehende psychische Grunderkrankung, nicht mehr von vornherein als verschuldet gelten (dazu BGE 145 V 215 E. 4 ff.). Im konkreten Fall ist zu Recht unstrittig, dass es sich bei der Alkoholsucht des Beschwerdegegners um eine Krankheit handelt.

 

Kausalität (E. 2.3.2)

Die Leistungspflicht nach Art. 324a OR setzt in jedem Fall einen natürlichen Kausalzusammenhang zwischen dem unverschuldeten Verhinderungsgrund und dem Ausbleiben der Arbeitsleistung voraus. Ursachen im Sinne des natürlichen Kausalzusammenhangs sind alle Umstände, ohne deren Vorhandensein der eingetretene Erfolg nicht als eingetreten oder nicht als in der gleichen Weise bzw. nicht zur gleichen Zeit eingetreten gedacht werden kann (BGE 148 V 138 E. 5.1.1, 356 E. 3; 142 V 435 E. 1; 129 V 177 E. 3.1). Entsprechend dieser Umschreibung ist für die Bejahung des natürlichen Kausalzusammenhangs nicht erforderlich, dass die Krankheit die alleinige oder unmittelbare Ursache der Arbeitsverhinderung ist; es genügt, dass sie zusammen mit anderen Bedingungen den Arbeitnehmer an der Leistungserbringung gehindert hat, d.h. nicht weggedacht werden kann, ohne dass auch die eingetretene Arbeitsverhinderung entfiele (Urteil 4A_232/2019, a.a.O., E. 3.2.2 mit Hinweisen; vgl. BGE 147 V 161 E. 3.2; 143 III 242 E. 3.7; 142 V 435 E. 1; 139 V 176 E. 8.4.1).

 

Mehrere Gründe der Arbeitsverhinderung

Liegen in einem konkreten Fall mehrere Gründe für eine Arbeitsverhinderung vor, so ist für die jeweilige Zeitperiode zu beurteilen, aus welchem Grund der Arbeitnehmer an der Arbeitsleistung verhindert ist und ob der jeweilige Grund als verschuldet oder unverschuldet zu gelten hat. Im in der Beschwerde erwähnten Beispiel einer Person, die infolge Verbüssung einer Freiheitsstrafe nicht zur Arbeit erscheinen kann, steht ihr nach Art. 324a Abs. 1 OR aufgrund ihres Verschuldens kein Anspruch auf Lohnfortzahlung zu. Erkrankt der Arbeitnehmer nach Antritt des Strafvollzugs, ändert die (unverschuldete) Krankheit nichts daran, dass er aufgrund des (verschuldeten) Freiheitsentzugs an der Erbringung der Arbeitsleistung gehindert ist und sich aus diesem Grund im Schuldnerverzug befindet. Entsprechend kann der Lohnfortzahlungsanspruch nach Art. 324a Abs. 1 OR nicht während des Strafvollzugs infolge Krankheit wieder aufleben. Ein Anspruch auf Lohnfortzahlung würde hingegen nachträglich entstehen, wenn die Person bei weiterhin andauernder Krankheit aus dem Strafvollzug entlassen würde, da sie ab diesem Zeitpunkt aufgrund ihrer Krankheit an der Arbeitsleistung gehindert wäre.

 

Entscheid des Bundesgerichts

Für das Bundesgericht lag vorliegend keine verschuldete Arbeitsverhinderung vor: Vorliegend wäre es ohne die fortgeschrittene Alkoholsucht nicht zur anschliessenden fürsorgerischen Unterbringung mit stationärer Behandlung gekommen. Der Führerausweisentzug könne nicht als ein für sich bestehender unabhängiger Grund für die Arbeits – verhinderung betrachtet werden. Dieser würde nichts an der bereits bestehenden Arbeitsverhinderung infolge Krankheit samt Einweisung ändern:

Die Frage, ob eine Arbeitsverhinderung infolge von Alkohol- oder Drogensucht verschuldet oder unverschuldet ist, muss nach den Besonderheiten des Einzelfalls beurteilt werden. Gleitet jemand über einen längeren Zeitraum gleichsam unmerklich in eine immer tiefere Abhängigkeit mit Krankheitswert, ist grundsätzlich von Krankheit und nicht von einem Verschulden der betroffenen Person auszugehen. Im konkreten Fall ist unbestritten, dass es sich bei der Alkoholsucht des Arbeitnehmers um eine Krankheit handelt. Liegen mehrere Gründe für eine Arbeitsverhinderung vor – hier der Unfall mit Führerausweisentzug, die Krankheit und die stationäre Behandlung –, so ist für die jeweilige Zeitperiode zu beurteilen, aus welchem Grund der Arbeitnehmer an der Arbeitsleis – tung verhindert war und ob der jeweilige Grund als verschuldet oder unverschuldet gilt. Vorliegend wäre es ohne die fortgeschrittene Alkoholsucht nicht zur anschliessenden fürsorgerischen Unterbringung mit stationärer Behandlung gekommen. Der Führerausweisentzug kann nicht als ein für sich bestehender unabhängiger Grund für die Arbeits – verhinderung betrachtet werden. Dieser änderte nichts an der bereits bestehenden Arbeitsverhinderung infolge Krankheit samt Einweisung.

Solche sich überlagernde und unabhängig voneinander bestehende Gründe für eine Arbeitsverhinderung liegen im zu beurteilenden Fall jedoch nicht vor. Ohne die fortgeschrittene Alkoholsucht des Beschwerdegegners wäre es nicht zum Verkehrsunfall vom 26. September 2022 mit anschliessender fürsorgerischer Unterbringung und stationärer Behandlung des Arbeitnehmers gekommen. Der Entzug des Führerausweises änderte nichts an der bereits bestehenden Arbeitsverhinderung infolge Krankheit samt stationärer medizinischer Behandlung. Der erlittene Verkehrsunfall, die fürsorgerische Unterbringung sowie der erfolgte Entzug des Führerausweises sind allesamt als verschiedene Manifestationen ein und derselben Ursache in Form der schweren Alkoholsucht zu betrachten.  

Entgegen dem, was die Beschwerdeführerin anzunehmen scheint, war der Führerausweisentzug nicht ein für sich bestehender unabhängiger Grund für die Arbeitsverhinderung, sondern lediglich ein weiteres Glied in der Kausalkette. Der Beschwerdegegner war in erster Linie wegen der Krankheit und der medizinischen Einweisung mit stationärer Behandlung an der Arbeit verhindert und nicht erst zufolge des Führerausweisentzugs. Die Konstellation ist insoweit mit derjenigen in BGE 133 III 185 E. 2 vergleichbar, in dem das Bundesgericht eine psychisch kranke Arbeitnehmerin, die sich infolge Brandstiftungen in einer Strafanstalt befand, als krankentaggeldberechtigt erachtete. Das Bundesgericht ging davon aus, dass die Arbeitsunfähigkeit nicht auf den Anstaltsaufenthalt zurückzuführen war, sondern auf die bereits vorher aufgetretene psychische Erkrankung, die kausal für die Brandstiftungen war. Es betrachtete demnach die Arbeitsunfähigkeit als krankheitsbedingt und den Anstaltsaufenthalt seiner Funktion nach als Klinikaufenthalt (BGE 133 III 185 E. 2.2.2). Auch im hier zu beurteilenden Fall war der Krankheitszustand des Arbeitnehmers die ursprüngliche und primäre Ursache der Arbeitsverhinderung und nicht der Entzug des für die Servicetätigkeit des Arbeitnehmers vorausgesetzten Führerausweises (vgl. Urteil 4A_232/2019, a.a.O., E. 3.2.2). Es braucht daher nicht vertieft zu werden, ob der erfolgte Führerausweisentzug für sich allein genommen als Arbeitsverhinderung im Sinne von Art. 324a Abs. 1 OR zu betrachten wäre. 

 

Weitere Beiträge im Zusammenhang mit der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers (Auswahl):

 

Autor: Nicolas Facincani

 

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