Die Beweislast für die Arbeitsunfähigkeit liegt grundsätzlich beim Arbeitnehmer (Art. 8 ZGB). Die direkte Beweisführung über den Rechtsbegriff der Arbeitsunfähigkeit ist ausgeschlossen. Dies gilt umgekehrt ebenso für die Arbeitsfähigkeit, sofern nicht der entsprechende Tatbeweis in Form der (uneingeschränkten) Arbeitsleistung erbracht wird. Obwohl der Beweis der Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit oder Unfalls – und ausnahmsweise auch derjenige der Arbeitsfähigkeit – in der Regel durch ärztliches Zeugnis erbracht wird, bewirkt dieser Anscheinsbeweis keine Beweislastumkehr. Ein Arztzeugnis stellt kein absolutes Beweismittel, sondern lediglich eine Parteibehauptung dar. Es bleibt eine Frage der Beweiswürdigung, ob die entscheidende Instanz darauf abstellt. Nur aufgrund der Tatsache, dass ein Arbeitnehmer sich nicht gut fühlt oder Kopfschmerzen hat, kann in der Regel noch nicht die Arbeitsunfähigkeit bewiesen werden.

Das Arztzeugnis ist somit ein wichtiges Indiz für Arbeitsunfähigkeit. Wird nur eine Krankheit attestiert, so bedeutet das noch nicht automatisch die Arbeitsunfähigkeit. Dem Wortlaut des Arztzeugnisses kommt daher grosse Bedeutung zu. Das Arztzeugnis ist einer von möglichen Beweisen für die Arbeitsunfähigkeit. Es sind aber grundsätzlich andere Beweise möglich. Der Arbeitgeber hat die Möglichkeit, einen Besuch beim Vertrauensarzt anzuordnen, sofern er Zweifel an der Richtigkeit des durch den Arbeitnehmer eingereichten Zeugnisses hat. Hierfür muss er aber die Kosten übernehmen.

 

Rückwirkende Arztzeugnisse?

Arbeitgeber sehen sich regelmässig damit konfrontiert, dass ihnen Arbeitnehmer Arztzeugnisse zustellen, die eine Arbeitsunfähigkeit ab einem früheren Zeitpunkt als dem Arzttermin bescheinigen. Dies stösst in der Regel auf Seiten des Arbeitgebers auf Unverständnis und die Beweiskraft solcher Zeugnisse wird in Frage gestellt. Die Rechtsprechung ist hier grosszügig, wie etwa auch der Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts A-536/2019 vom 9. Dezember 2019 aufzeigt:

Gemäss Lehre und Rechtsprechung ist ein rückwirkend ausgestelltes Arztzeugnis zwar nicht unproblematisch, kann aber nicht von vornherein als ungültig erachtet werden (vgl. Urteile des BVGer A-4973/2012 vom 5. Juni 2013 E. 4.2 und A-6509/2010 vom 22. März 2011 E. 10.2; Humbert/Lerch, Fachhandbuch, Rz. 11.184 f., Maria Wenger, Krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit und Lohnfortzahlung, 2018, Rz. 44, Streiff/von Kaenel/Rudolph, a.a.O., Art. 336c N 8 i.V.m. Art. 324a/b N 12, Müller, a.a.O., S. 172; je mit Hinweisen). Auch darf von einer allfälligen Ferienfähigkeit nicht ohne Weiteres auf die Arbeitsfähigkeit geschlossen werden (vgl. Urteil des BVGer A-6361/2015 vom 27. April 2016 E. 6.2; Carina Oehri, Arbeitsunfähigkeit, Ferienunfähigkeit und Stellensuchunfähigkeit im Arbeitsrecht, S. 3, Streiff/von Kaenel/Rudolph, a.a.O., Art. 329a N 6; je mit Hinweisen). Ferner setzt der zeitliche Kündigungsschutz keine Kenntnis der Arbeitsunfähigkeit voraus und es ist grundsätzlich auch unerheblich, ob der Arbeitgeber darüber informiert ist (vgl. BGE 128 III 212 E. 2c; Humbert/Lerch, Fachhandbuch, Rz. 11.153 f., Streiff/Von Kaenel/Rudolph, a.a.O., Art. 336c N 8; je mit Hinweisen).

 

BGer 8C_607/2021 vom 19. Januar 2022

Im Entscheid BGer 8C_607/2021 vom 19. Januar 2022 hatte sich das Bundesgericht mit dem Beweiswert eines rückwirkend ausgestellten Arztzeugnisses auseinanderzusetzen.

Nach Erhalt der Kündigung am 30. März 2020 präsentierte der gekündigte Arbeitnehmer ein am 1. April 2020 ausgestelltes Arztzeugnis, welches eine Arbeitsunfähigkeit am 30. März 2020 bescheinigte. Damit wäre die Kündigung, da während der Sperrfirst erfolgt, nichtig gewesen.

Für das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich (VB.2021.00192) taugte das Arztzeugnis nicht als Beweis für die Arbeitsunfähigkeit, da der betreffende Arzt offenbar auch in der Vergangenheit Zeugnisse ereignisbezogen ausgestellt hatte:

5.2 Mit Blick auf das vorliegend relevante Arztzeugnis, welches den Zeitraum vom 20. Februar bis am 9. April 2020 beschlägt, fällt zunächst auf, dass dieses am Mittwoch, 1. April 2020, und mithin erst zwei Tage nach der Kündigung ausgestellt wurde. Bereits dieser Umstand erweckt Zweifel, ob vorbehaltlos auf dieses Arztzeugnis abgestellt werden kann. Erhärtet werden diese Zweifel dadurch, dass Dr. F bereits in der Vergangenheit Zeugnisse offenbar ereignisbezogen ausgestellt hat (vgl. dazu auch VGr, 17. Juli 2019, VB.2018.00589, E. 3.4.2 Abs. 2). So hatte er am 23. März 2020 bescheinigt, dass der Beschwerdeführer vom 23. bis am 29. März 2020 krankheitshalber arbeitsunfähig gewesen sei; dies wirkt deshalb ungewöhnlich, weil gegenüber dem Beschwerdeführer am 23. März 2020 der Bezug von Ferien für diese Tage angeordnet worden war. In diesem Zusammenhang ist – entgegen dem Beschwerdeführer – nicht von Relevanz, ob die Beschwerdegegnerin überhaupt Ferien hätte anordnen dürfen. Auch davor hatte Dr. F den Beschwerdeführer bereits rückwirkend für die Dauer von dessen (geplanten) Ferien krankgeschrieben: Gemäss Zeugnis vom 24. Februar 2020 soll der Beschwerdeführer vom 20. bis am 26. Februar 2020 krankheitshalber vollständig arbeitsunfähig gewesen sein. Aus dem in den Akten liegenden Arbeitsrapport geht hervor, dass der Beschwerdeführer genau an diesen Tagen Ferien hätte beziehen sollen und vorher sowie nachher arbeitete.

Sodann ist zwar unbestritten, dass der Beschwerdeführer aufgrund verschiedener gesundheitlicher Beschwerden im Februar und März 2020 insgesamt dreimal hospitalisiert werden musste. Vorliegend besteht kein Grund, an der Korrektheit der in diesem Zusammenhang vom Spital E bzw. der Spitäler G ausgestellten Arbeitsunfähigkeitszeugnisse zu zweifeln. Daraus kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass der Beschwerdeführer auch am 30. März 2020 krankheitsbedingt arbeitsunfähig war. Denn zum einen hat der Beschwerdeführer zwischen seinen krankheitsbedingten Abwesenheiten gearbeitet und waren seine Abwesenheiten Folge verschiedener Krankheiten. Zum anderen gab er gegenüber seinen Arbeitskolleginnen und -kollegen am 25. März 2020 an, dass er ab dem 30. März 2020 wieder arbeiten werde; ebenso machte er gegenüber seinem Vorgesetzten weder am 28. noch am 30. März 2020 geltend, er sei noch immer arbeitsunfähig.

5.3 Zusammenfassend taugt das Arztzeugnis von Dr. F vom 1. April 2020 nicht als Beweis für die behauptete krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit des Beschwerdeführers im Zeitpunkt der Kündigung. Diese könnte nach dem Gesagten auch durch eine Befragung der Zeugin K nicht belegt werden; auf deren Befragung kann deshalb verzichtet werden. Des Weiteren kann eine Arbeitsunfähigkeit des Beschwerdeführers im Kündigungszeitpunkt auch unter Berücksichtigung der weiteren Akten nicht als belegt erachtet werden. Der Sachverhalt ist demnach hinreichend erstellt; eine Rückweisung der Sache zur weiteren Sachverhaltsabklärung ist nicht notwendig.

 

Entscheid des Bundesgerichts

Das Bundesgericht schützte den Entscheid des Verwaltungsgericht bzw. erachtete diesen nicht als willkürlich:

5.2. Es steht fest und ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer im Februar und März 2020 aufgrund verschiedener gesundheitlicher Probleme arbeitsunfähig war. Nach der Spitalbehandlung wegen einer Influenza-A-Infektion (Grippe) und eines Harnweginfekts attestierte der Hausarzt zuletzt eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit bis zum 29. März 2020. Gemäss den verbindlichen (vgl. E. 2.1 hiervor) Feststellungen der Vorinstanz arbeitete der Beschwerdeführer im Februar und März 2020 zwischen den krankheitsbedingten Abwesenheiten an einzelnen Tagen, und auch am Kündigungstag (30. März 2020) erschien er zur Arbeit, wobei er dies seinen Arbeitskolleginnen und -kollegen vorgängig in einer WhatsApp-Nachricht entsprechend angekündigt hatte. Weder am 28. März 2020, als er mit seinem Vorgesetzten den Gesprächstermin vom 30. März 2020 vereinbart hatte, noch am Kündigungstag selber erwähnte er gegenüber seinem Vorgesetzten eine Arbeitsunfähigkeit. Wenn die Vorinstanz bei diesen Gegebenheiten zum Schluss gelangte, eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit am 30. März 2020 sei nicht erstellt, so ist sie damit nicht in Willkür verfallen. Es erscheint auch nicht unhaltbar, wenn sie dem Arztzeugnis vom 1. April 2020, mit welchem der Hausarzt dem Beschwerdeführer ab 20. Februar bis zum 9. April 2020 eine vollständige Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit bescheinigte, obwohl dieser an mehreren Tagen effektiv gearbeitet hatte, kein entscheidendes Gewicht beimass. Zum einen handelt es sich beim Arztzeugnis nicht um ein absolutes Beweismittel und es bleibt eine Frage der Beweiswürdigung, ob ein Gericht darauf abstellt oder nicht (vgl. Urteile 4A_587/2020 vom 28. Mai 2021 E. 3.1.2; 8C_619/2014 vom 13. April 2015 E. 3.2.1; je mit Hinweisen). Zum anderen hat die Vorinstanz dargelegt, dass hinsichtlich der Arztzeugnisse des Dr. med. E.________ Zweifel bestünden, nachdem dieser in der Vergangenheit Zeugnisse offenbar ereignisbezogen (für den Zeitraum geplanter resp. angeordneter Ferien) ausgestellt habe. 

 

Fazit

Der Entscheid zeigt auf, dass es sich beim Arztzeugnisse nicht um ein absolutes Beweismittel handelt. Stets ist der Einzelfall relevant und es sind alle relevanten Umstände zu prüfen. Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit können insbesondere erhärtet werden, wenn ein Arzt bereits in der Vergangenheit ereignisbezogene Zeugnisse ausgestellt hat. Daraus zu schliessen, dass ereignisbezogene Zeugnisse stets unbeachtlich seien, ist aber falsch.

 

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Autor: Nicolas Facincani

 

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