Die Tatsache, dass das vom Arbeitnehmer vorgelegte ärztliche Attest drei Wochen nach Beginn seiner Abwesenheit ausgestellt und von seinem Hausarzt unterzeichnet wurde, reicht gemäss Bundesgericht (BGer 4A_159/2023 vom 11. April 2023) nicht aus, um den Beweis für seine Krankheit zu entkräften, da andere Elemente die Annahme stützten, dass die Arbeitgeberin das Vorhandensein dieser Krankheit anerkannt hatte (wie der Schriftverkehr mit einer anderen Arbeitnehmerin und die Reaktion des Krankenversicherers), und dies, obwohl der Arbeitnehmer anfangs erwähnt hatte, dass er zur gleichen Zeit wie die Krankheit Urlaubstage genommen hatte. Aus diesem Grund musste die Arbeitgeberin musste während der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers den Lohn fortzahlen.

 

Sachverhalt in BGer 4A_159/2023 vom 11. April 2023

Dem Entscheid BGer 4A_159/2023 vom 11. April 2023 lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Mit Arbeitsvertrag vom 25. April 2019 stellte die Arbeitgeberin den Arbeitnehmer per 2. Mai 2019 als Inserate-Akquisiteur mit einem Bruttomonatslohn von Fr. 4’000.– zuzüglich allfälliger Provision an.

Mit Schreiben vom 27. April 2020 teilte die Arbeitgeberin dem Arbeitnehmer mit, sie betrachte das Arbeitsverhältnis per 24. März 2020 durch fristlose Kündigung des Arbeitnehmers als beendet, da er seit diesem Tag nicht mehr zur Arbeit erschienen sei. Die Arbeitgeberin machte geltend, der Arbeitnehmer habe zuerst mitgeteilt, er beziehe vier Tage Ferien, danach sei er aber weder zur Arbeit erschienen noch habe er sich bei ihr gemeldet. Das einen Monat später zugestellte Arztzeugnis vom 16. April 2020 komme ihr suspekt vor.

Der Arbeitnehmer machte in der Folge einen Anspruch auf Lohnfortzahlung vom 24. März 2020 bis 8. Oktober 2020 geltend. Das Gericht verpflichtete die Arbeitgeberin, dem Arbeitnehmer Fr. 20’620.25 nebst Zins zu bezahlen, abzüglich der darauf nachweislich bezahlten Sozialversicherungsbeiträge. Der Einzelrichter erwog, weil die Arbeitgeberin die Krankheit des Arbeitnehmers nicht an die Taggeldversicherung gemeldet habe, sei sie im Umfang der von der Taggeldversicherung verweigerten Krankentaggeldleistung für den Zeitraum vom 23. April 2020 bis 8. Oktober 2020 schadenersatzpflichtig. Zum Schadenersatzanspruch komme die während der Wartefrist von der Arbeitgeberin ohnehin zu leistende Lohnfortzahlung hinzu.

 

Verfahren vor Bundesgericht

Vor Bundesgericht war unter anderem die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers im Zeitraum vom 24. März 2020 bis zum 25. Oktober 2020.

 

Die Vorinstanz

Die Vorinstanz erwog, die Ausführungen der Arbeitgeberin genügten nicht, um die erstinstanzliche Würdigung – der Arbeitnehmer sei im streitgegenständlichen Zeitraum arbeitsunfähig gewesen – zu erschüttern. Als einziges Indiz für den gegenteiligen Standpunkt der Arbeitgeberin komme ihr Hinweis in Frage, das hausärztliche Zeugnis über die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers sei erst drei Wochen nach Beginn der attestierten Krankheit ausgestellt worden. In die Beweiswürdigung der Erstinstanz seien indessen weitere Beweismittel eingeflossen. Zum einen die E-Mail-Korrespondenz zwischen dem Arbeitnehmer und einer Arbeitnehmerin bei der Arbeitgeberin. Daraus ergebe sich namentlich, dass der Arbeitnehmer davon habe ausgehen dürfen, seine Krankheitsmeldung sei bei der Arbeitgeberin angekommen und von dieser akzeptiert worden. Zudem habe die Erstinstanz auch berücksichtigt, dass die Taggeldversicherung die Krankheit des Arbeitnehmers ausdrücklich und durchgehend anerkannt habe. Es genüge nicht, der Taggeldversicherung vorzuwerfen, sie habe ohnehin bis zum 8. Oktober 2020 nichts bezahlen müssen und habe ihren Leistungsumfang auf 551 Tage schmälern können.

Unbehelflich sei schliesslich der Hinweis der Arbeitgeberin auf die Offerte eines Gerichtsgutachtens betreffend die ärztlichen Bescheinigungen. Zum einen habe die Erstinstanz unter der Berücksichtigung der E-Mail-Korrespondenz keine berechtigten Zweifel am hausärztlichen Zeugnis haben müssen, insbesondere auch deshalb nicht, weil die Arbeitsunfähigkeit nicht nur vom Hausarzt, sondern auch von der F. AG bestätigt worden sei. Dabei sei unbehelflich, dass in deren Zeugnissen teilweise die Arbeitsbezeichnung „Koch“ verwendet worden sei. Die F. AG betreibe das Zentrum im Auftrag der G. Wenn ein solches Zentrum eine Arbeitsunfähigkeit bestätige, sei davon auszugehen, dass psychische Leiden vorherrschten und die berufliche Tätigkeit nicht massgebend sei. Zum anderen sei nicht ersichtlich und lege die Beschwerdeführerin auch nicht dar, inwiefern ein Gutachter das hausärztliche Zeugnis sinnvoll hätte überprüfen bzw. ein anderes Beweisergebnis über die Krankheit des Arbeitnehmers hätte bewirken können. Die Frage eines Gutachtens stelle sich jedoch sowieso nicht, da keine Zweifel an den Zeugnissen bestünden.

 

Entscheid des Bundesgerichts

Die Arbeitgeberin rügte betreffend die von der Vorinstanz abgenommenen Beweismittel eine willkürliche Beweiswürdigung. Sodann machte sie geltend, die Vorinstanz habe in unzulässiger antizipierter Beweiswürdigung auf die Einholung eines Gerichtsgutachtens betreffend die ärztlichen Bescheinigungen verzichtet. Beides wurde vom Bundesgericht verworfen:

4.3. Die Beschwerdeführerin rügt betreffend die von der Vorinstanz abgenommenen Beweismittel eine willkürliche Beweiswürdigung.  

Soweit die Beschwerdeführerin betreffend die E-Mail-Korrespondenz geltend macht, der Beschwerdegegner schreibe selbst, er beziehe noch einen Ferientag, übergeht sie, dass sich die Vorinstanz mit diesem Einwand auseinandergesetzt hat. Sie erwog, es sei nicht relevant, dass der Beschwerdegegner in den ersten E-Mails mitgeteilt habe, er beziehe Urlaubstage, da er gleichzeitig seine Krankheitsbeschwerden geschildert habe. Wer krank sei, sei objektiv an der Arbeitsleistung verhindert, womit sich die Frage des Ferienbezugs nicht stelle, selbst wenn er vorerst auf einen solchen hingewiesen habe. Mit diesen Erwägungen setzt sich die Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerde nicht hinreichend auseinander. Sie vermag nicht aufzuzeigen, dass die Vorinstanz in Willkür verfallen ist, indem sie auch die E-Mail-Korrespondenz in ihre Beweiswürdigung miteinbezogen hat. Entgegen der Beschwerdeführerin ist daraus auch nicht zwingend abzuleiten, dass der Beschwerdegegner selbst davon ausgegangen ist, er sei noch arbeitsfähig. 

Auch ist nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz im Rahmen der Beweiswürdigung den Umstand berücksichtigte, dass auch die D.________ die Arbeitsunfähigkeit des Beschwerdegegners ausdrücklich und durchgehend anerkannt hat. Es ist jedenfalls nicht willkürlich, wenn die Vorinstanz den pauschalen Einwand, die D.________ habe ohnehin bis am 8. Oktober 2020 nichts zahlen müssen und damit den Leistungsumfang auf 551 Tage schmälern können, nicht genügen lässt. Die Beschwerdeführerin tut nicht dar und es ist auch nicht ersichtlich, weshalb die D.________ ohne Not die Arbeitsunfähigkeit des Beschwerdegegners ausdrücklich hätte anerkennen sollen. Eine Verletzung der Begründungspflicht liegt diesbezüglich ebenso wenig vor. Auch musste die Vorinstanz aus dem Umstand, dass die D.________ die Arbeitsunfähigkeit auf den 13. April 2020 festsetzte (3 Tage vor dem Behandlungstermin), nicht ableiten, auch die D.________ habe das erste hausärztliche Arztzeugnis angezweifelt. 

Weiter vermag die Beschwerdeführerin auch hinsichtlich der Zeugnisse der F.________ AG keine willkürliche Beweiswürdigung darzutun. Die Vorinstanz durfte, ohne in Willkür zu verfallen, davon ausgehen, es würden psychische Leiden vorherrschen, weshalb die (teilweise) falsche Berufsbezeichnung in den Zeugnissen der F.________ AG nichts zu ändern vermöge. Die Beschwerdeführerin vermag jedenfalls nicht darzutun, dass eine Tätigkeit des Beschwerdegegners im angestammten Arbeitsplatz auch mit psychischen Leiden möglich wäre. Dies gerade auch vor dem Hintergrund, dass sie an anderer Stelle ihrer Beschwerde selbst ausführt, der Beschwerdegegner habe geltend gemacht, er habe extreme Angstgefühle und habe Mühe zu telefonieren. Auch begründet es keine Willkür, wenn die Vorinstanz die Zeugnisse der F.________ AG nicht allein aufgrund der teilweisen falschen Berufsbezeichnung als unglaubwürdig erachtet. 

Die Beschwerdeführerin vermag insgesamt keine willkürliche Beweiswürdigung darzutun, wenn die Vorinstanz die Arbeitsunfähigkeit des Beschwerdegegners im streitgegenständlichen Zeitraum mit der Erstinstanz aufgrund einer Gesamtbetrachtung der beschriebenen Umstände (vgl. hiervor E. 4.1) als erstellt erachtet hat. Vor diesem Hintergrund ist der Vorinstanz auch keine Willkür vorzuwerfen, wenn sie letztlich auch das hausärztliche Zeugnis vom 16. April 2020 als glaubwürdig erachtet hat. 

4.4. Die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanz habe in unzulässiger antizipierter Beweiswürdigung auf die Einholung eines Gerichtsgutachtens betreffend die ärztlichen Bescheinigungen verzichtet.  

4.4.1. Der Beweisführungsanspruch nach Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 8 ZGB bzw. Art. 152 ZPO schreibt dem Gericht nicht vor, mit welchen Mitteln es den Sachverhalt abzuklären hat (vgl. BGE 114 II 289 E. 2a mit Hinweis), und er schliesst namentlich die antizipierte Beweiswürdigung nicht aus. Wenn ein Gericht darauf verzichtet, beantragte Beweise abzunehmen, weil es aufgrund bereits abgenommener Beweise seine Überzeugung gebildet hat und ohne Willkür in vorweggenommener Beweiswürdigung annehmen kann, dass seine Überzeugung durch weitere Beweiserhebungen nicht geändert würde, ist der Beweisführungsanspruch nicht verletzt (BGE 136 I 229 E. 5.3; 134 I 140 E. 5.3; je mit Hinweisen). Das Bundesgericht greift in die antizipierte Beweiswürdigung nur ein, wenn sie willkürlich ist (BGE 138 III 374 E. 4.3.2 mit Hinweis).   

4.4.2. Die Vorinstanz hat ausführlich begründet, weshalb sie auf die Einholung des beantragten Gerichtsgutachtens betreffend die ärztlichen Bescheinigungen verzichtet hat. Damit setzt sich die Beschwerdeführerin nicht hinreichend auseinander. Sie vermag nicht aufzuzeigen, inwiefern die Vorinstanz in Willkür verfallen sein soll, indem sie die Arbeitsunfähigkeit des Beschwerdegegners gestützt auf die ärztlichen Bescheinigungen (Zeugnisse des Hausarztes und der F.________ AG), die E-Mail-Korrespondenz zwischen dem Beschwerdegegner und E.________ sowie dem Umstand, dass auch die D.________ dessen Arbeitsunfähigkeit anerkannte, als erstellt erachtete.  

Auch ist es nicht willkürlich, wenn die Vorinstanz ausführt, es sei nicht ersichtlich, inwiefern ein Gutachter das hausärztliche Zeugnis überhaupt sinnvoll hätte überprüfen können. Nichts ändert ihr Einwand, ein Gerichtsgutachten werde nicht über das Arztzeugnis erstellt, sondern über die darin behauptete Arbeitsunfähigkeit. Die Beschwerdeführerin verweist pauschal auf Patientenakten, Befragungen des behandelnden Arztes und des Patienten sowie eigene fachliche Betrachtungen. Daraus erhellt sich aber nicht, inwiefern vorliegend ein Gerichtsgutachter – entgegen der Vorinstanz – das hausärztliche Zeugnis sinnvoll hätte überprüfen können, zumal sie sich an anderer Stelle selbst auf den Standpunkt stellt, eine rückwirkende Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit sei schwierig. 

Zusammenfassend vermag die Beschwerdeführerin nicht darzutun, dass die Vorinstanz in Willkür verfallen ist, indem sie mit der Erstinstanz auf die Einholung des beantragten Gerichtsgutachtens verzichtete. 

 

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Autor: Nicolas Facincani 

 

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