In BGer 4A_457/2020 vom 21. Januar 2021 hatte sich das Bundesgericht mit der Frage zu befassen, ob einem Arbeitnehmer, welcher unverzichtbare Ansprüche (Art. 341 OR) geltend macht, diese mit der Berufung auf den Rechtsmissbrauch verweigert werden können.

 

Sachverhalt

Dem Entscheid BGer 4A_457/2020 vom 21. Januar 2021 lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Der Arbeitnehmer  war gelernter Rohrschlosser/Klempner und wurde von der A. AG  im Rahmen eines Personalverleihs ab dem 24. September 2007 für Arbeitseinsätze bei der C. AG aufgeboten. Als Arbeitsort wurde V. vereinbart, wo der Kläger auch seinen Wohnsitz nahm.

Ab 2013 wurde der Arbeitnehmer von der C. AG auf Baustellen schweizweit eingesetzt, wobei er ab Juli 2013 unter der Woche ein Zimmer in W. bzw. X. bezog. Ende 2014 wurde das Arbeitsverhältnis zwischen dem Kläger und A. AG infolge Erreichens des Rentenalters aufgelöst.

Der Kläger verlangte von der A. AG einerseits den Ersatz der Mehrauslagen, die ihm von 2013 bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses daraus entstanden sind, dass er von der C. AG an anderen Arbeitsorten als V. eingesetzt worden ist. Andererseits verlangte er für diese Periode auch die korrekte Entschädigung der Arbeitszeit, insbesondere unter Berücksichtigung der Fahrzeiten zu den jeweiligen Baustellen (Reisezeit) sowie der geleisteten Überstunden und Sonntagsarbeit.

Die A. AG war der Ansicht, der Arbeitnehmer habe seine Ansprüche auf Überstundenentschädigung (gemeint: jegliche Entschädigung von Arbeitszeit, die ihr nicht rapportiert wurde) und Auslagenersatz verwirkt, weil er eine Schattenbuchhaltung der C. AG mitgetragen habe, insbesondere habe er wissentlich und willentlich wahrheitswidrige Angaben in den Tätigkeitsnachweisen gemacht, diese unterzeichnet und ihr unterbreitet.

 

Kantonaler Entscheid

Die Vorinstanz erwog, die Geltendmachung von gesetzlich bzw. gesamtarbeitsvertraglich begründeten Forderungen sei für sich alleine nicht rechtsmissbräuchlich. Diese Ansprüche seien sodann im Bereich der zwingenden Bestimmungen unverzichtbar gemäss Art. 341 Abs. 1 OR (unverzichtbare Ansprüche). Für die Bejahung eines Rechtsmissbrauchs bei der Berufung auf zwingendes Recht müssten daher neben der Verletzung von Treu und Glauben zusätzlich besondere Umstände gegeben sein. Deren Vorliegen beschlage die Beweiswürdigung.

Die Erstinstanz habe den Rechtsmissbrauch im Wesentlichen mit der Argumentation verneint, der Beschwerdeführerin würden durch die nachträgliche Rechtsausübung aufgrund der Möglichkeit der Schadloshaltung an der C. AG keine Nachteile erwachsen. Zumindest sinngemäss habe sie auch eine Verletzung von Treu und Glauben verneint.

Die Vorinstanz erwog, dem Arbeitnehmer könne auch keine Verletzung von Treu und Glauben vorgeworfen werden könne. Seine nachträgliche Rechtsausübung trotz Mittragens der durch die C. AG betriebenen Schattenwirtschaft während des Arbeitsverhältnisses erweise sich nicht als venire contra factum proprium. Ein Verhalten sei dann nicht widersprüchlich bzw. mit der ursprünglichen Vorgehensweise vereinbar, wenn es auf achtenswerten Gründen beruhe. Die Erstinstanz habe beweiswürdigend festgehalten, die Gründe für das Mittragen der Schattenwirtschaft seien nachvollziehbar, da der Arbeitnehmer sich davor gefürchtet habe, entlassen und arbeitslos zu werden, wenn er aufbegehrt hätte.

 

Entscheid des Bundesgerichts BGer 4A_457/2020 vom 21. Januar 2021

Umstritten war vor dem Bundesgericht, ob die geltend gemachten Ansprüche des Arbeitnehmers infolge Rechtsmissbrauchs verwirkt sind. Das Bundesgericht schützte den Entscheid der Vorinstanz (E.3).

Die Vorinstanz habe ohne Verletzung von Bundesrecht davon ausgehen, dass sich das Verhalten des Arbeitnehmers nicht als treuwidrig erweise.

Sodann hielt das Bundesgericht fest, dass Art. 2 Abs. 2 ZGB als korrigierender „Notbehelf“ für die Fälle gilt, in denen formales Recht zu materiell krassem Unrecht führen würde, und Rechtsmissbrauch somit restriktiv anzunehmen sei (BGE 143 III 666 E. 4.2 S. 673 mit Hinweisen). Dies gelte erst Recht für die Bejahung von Rechtsmissbrauch wegen verspäteter Geltendmachung von Ansprüchen aus dem Arbeitsverhältnis, die im Sinne von Art. 341 Abs. 1 OR unverzichtbar seien (wie beispielsweise der erworbene Anspruch auf Abgeltung bereits geleisteter Überstunden; vgl. BGE 129 III 171 E. 2.4 S. 176 mit Hinweisen). Ansonsten würde dem Arbeitnehmer der mit der zwingenden Gesetzesbestimmung gewährte Schutz auf dem Weg über Art. 2 Abs. 2 ZGB wieder entzogen (BGE 129 III 493 E. 5.1 S. 497, 618 E. 5.2 S. 622; 126 III 337 E. 7b S. 344; je mit Hinweisen).

 

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Autor: Nicolas Facincani