Ein Arbeitnehmer ist gegenüber dem Arbeitgeber zur Interessenwahrung verpflichtet. Er hat grundsätzlich alles zu unterlassen, was dem Arbeitgeber schaden könnte. Er ist zur Solidarität und Loyalität verpflichtet. Generell zu unterlassen hat er ungebührliches und pflicht- oder rechtswidriges Verhalten gegenüber dem Arbeitgeber, Arbeitskollegen, Vorgesetzten, Kunden und Lieferanten.
Schranken der Treuepflicht bilden das Prinzip von Treu und Glauben sowie die berechtigten eigenen Interessen des Arbeitnehmers an der freien Entfaltung seiner Persönlichkeit. Es geht also um eine Interessenabwägung zwischen den Interessen des Arbeitgebers und denjenigen des Arbeitnehmers.
Informationspflichten des Arbeitsnehmers
Das Bundesgericht hielt im BGer 4A_486/2024 vom 15. Januar 2025 fest, dass zu den Treuepflichten des Arbeitnehmers auch Informationspflichten des Arbeitnehmers im Zusammenhang mit Absenzen fallen:
Der Arbeitnehmer muss seinem Arbeitgeber vorhersehbare Absenzen möglichst frühzeitig in Aussicht stellen und unvorhersehbare Absenzen nach ihrem Eintritt unverzüglich melden.
Eine solche Mitteilungspflicht gilt auch für krankheits- und unfallbedingte Ausfälle. Sobald es der Gesundheitszustand des Arbeitnehmers erlaubt, muss dieser von sich aus unverzüglich seinen Arbeitgeber kontaktieren und ihn über die voraussichtliche Dauer und den Umfang seiner Arbeitsunfähigkeit unterrichten. Der Arbeitnehmer hat seine Prognose gegebenenfalls an neue medizinische Erkenntnisse anzupassen: Ist später mit einer kürzeren oder längeren Genesungsdauer zu rechnen, muss er diese Tatsache umgehend seinem Arbeitgeber mitteilen. Der Arbeitnehmer ist folglich während der ganzen Dauer seiner gesundheitlichen Beeinträchtigung verpflichtet, seinen Arbeitgeber rasch, kontinuierlich und vollständig über seine Arbeitsunfähigkeit zu unterrichten. Dies gilt besonders für Personen, die eine zentrale Funktion im Unternehmen wahrnehmen.
BGer 4A_486/2024 vom 15. Januar 2025
Dem Entscheid des Bundesgerichts BGer 4A_486/2024 vom 15. Januar 2025 lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Die Arbeitnehmerin war seit dem 1. August 2020 bei der Arbeitgeberin angestellt. Sie übte dort die Funktion eines sogenannten Head-Brauers für die Bierherstellung aus. Daneben arbeitete sie für das Unternehmen im Verkauf und in der Kundenbetreuung. Am Mittwoch, 27. Oktober 2021 löste die Beklagte den Arbeitsvertrag mit der Klägerin per 31. Januar 2022 auf. Dies geschah unter Einhaltung der ordentlichen dreimonatigen Kündigungsfrist. Die Beklagte begründete diesen Schritt damit, dass die Situation im Team unhaltbar geworden sei und die Beklagte nicht die verlangten Änderungen vorgenommen habe.
In der Folge war die Arbeitnehmerin immer wieder krank, wobei sie die Arztzeugnisse spät einreichte:
- Am Montag, 1. November 2021 erschien die Arbeitnehmerin im Betrieb der Arbeitgeberin und räumte dort ihren Spind. Zufolge Unwohlseins verliess sie ihren Arbeitsplatz am selben Tag aber vorzeitig. Am Dienstag, 2. November 2021 meldete sich die Arbeitnehmerin bei der Arbeitgeberin krank. Am Freitag, 5. November 2021 teilte sie der Arbeitgeberin mit, dass sie frühestens am Montag, 8. November 2021 einen Arzt aufsuchen könne.
- Am Montag, 8. November 2021 um 18:19 Uhr teilte die Arbeitnehmerin dem Verwaltungsratspräsidenten per E-Mail mit, dass sie einen Termin vom Dienstag, 9. November 2021 nicht wahrnehmen könne und ein Arztzeugnis folgen werde.
- Am Mittwoch, 10. November 2021 übersandte die Arbeitnehmerin dem Verwaltungsratspräsidenten ein am Montag, 8. November 2021 ausgestelltes Arztzeugnis. Dieses Zeugnis bescheinigte der Arbeitnehmerin eine vom Montag, 8. November bis und mit Donnerstag, 11. November 2021 dauernde Arbeitsunfähigkeit. Zugleich hielt das Zeugnis fest, dass eine Wiederaufnahme der Arbeit ab Freitag, 12. November 2021 möglich sei.
- Die Arbeitnehmerin antwortete dem Verwaltungsratspräsidenten am Donnerstag, 11. November 2021 um 21:00 Uhr, dass sie am Freitag, 12. November 2021 einen Arzttermin haben und dann weitersehen werde.
- In der Folge meldete sich die Arbeitnehmerin vom Freitag, 12. November bis und mit Montag, 15. November 2021 nicht bei der Arbeitgeberin. Am Montag, 15. November 2021 um 23:35 Uhr kündigte der Verwaltungsratspräsident per E-Mail das Arbeitsverhältnis mit der Arbeitnehmerin fristlos.
- Am Donnerstag, 18. November 2021 reichte die Arbeitnehmerin der Arbeitgeberin ein undatiertes Arztzeugnis ein, wonach sie ab Freitag, 12. November zu 100 % arbeitsunfähig sei.
Beurteilung der fristlosen Kündigung
Die Arbeitnehmerin war der Ansicht, die Vorinstanz (Entscheid des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 6. Juni 2024 (ZBR.2024.4)) habe die Voraussetzungen für ihre fristlose Entlassung zu Unrecht bejaht.
Die Vorinstanz erwog, ein Arbeitnehmer müsse möglichst frühzeitig seinem Arbeitgeber vorhersehbare Absenzen mitteilen und unvorhersehbare Absenzen umgehend melden. Die Arbeitnehmerin habe am Montag, 8. November 2021 eine telemedizinische Konsultation gehabt. Gleichentags sei ihr ein Arztzeugnis ausgestellt worden, das ihr eine vollständige Arbeitsunfähigkeit von Montag, 8. November bis Donnerstag, 11. November 2021 bescheinigt habe. Die Arbeitnehmerin habe am Montag, 8. November 2021 um 18:19 Uhr die Arbeitgeberin per E-Mail kontaktiert, ohne indessen ihre Arbeitsunfähigkeit während der kommenden drei Tage zu erwähnen. Dadurch habe die Arbeitnehmerin ein erstes Mal ihre Pflicht verletzt, die Arbeitgeberin unverzüglich, kontinuierlich und vollständig über ihre Abwesenheit im Betrieb der Arbeitgeberin zu orientieren.
Weiter erwog die Vorinstanz, der Verwaltungsratspräsident der Arbeitgeberin habe die Arbeitnehmerin am Mittwoch, 10. November 2021 um 10:21 Uhr per E-Mail gefragt, ob sie demnach ab Freitag, 12. November 2021 wieder einsatzfähig sei. Die Arbeitnehmerin habe ihn am Donnerstag, 11. November 2021 um 21:00 Uhr per E-Mail wissen lassen, dass sie am Vormittag des Freitags, 12. November 2021 einen Arzttermin haben und dann weitersehen werde. In der Folge habe sich die Arbeitnehmerin weder am Freitag, 12. November 2021 noch am Montag, 15. November 2021 bei der Arbeitgeberin gemeldet. Die Arbeitnehmerin behaupte nicht, sie sei zufolge Krankheit oder aus anderen Gründen unverschuldet ausser Stande gewesen, sich an einem dieser beiden Tage oder an dem dazwischenliegenden Wochenende bei der Arbeitnehmerin zu melden. Damit habe die Arbeitnehmerin ein zweites Mal gegen ihre Orientierungspflicht verstossen, was eine fristlose Kündigung rechtfertige.
Entscheid des Bundesgerichts
Das Bundesgericht schützte den Entscheid der Vorinstanz. Gemäss Bundesgericht hatte die Arbeitnehmerin die Vorinstanz die Informationspflicht zweimal verletzt, was eine fristlose Kündigung rechtfertigen würde:
6.1. Die Beschwerdeführerin arbeitete bis zu ihrer fristlosen Entlassung als sogenannte Head-Brauerin im Betrieb der Beschwerdegegnerin. Sie war dort eine von bloss zwei festangestellten Bierbrauern. Angesichts dieses kleinen Personalbestandes verfügte die Beschwerdegegnerin über wenig Spielraum, um die Aufgaben der erkrankten Beschwerdeführerin auf andere Personen umzuverteilen. Die Beschwerdegegnerin befand sich zudem anfangs November in einer „kritischen Phase“, musste sie doch wegen des nahenden Weihnachtsgeschäftes einen gesteigerten Bestelleingang bewältigen. Die Beschwerdegegnerin hatte folglich ein legitimes Interesse, möglichst rasch von der Beschwerdeführerin zu erfahren, wann sie wieder mit ihrem Einsatz rechnen konnte.
6.2. Wie die Vorinstanz zutreffend erkannt hat, verletzte die Beschwerdeführerin ihre Informationspflicht gleich zweimal:
6.2.1. Am Montag, 8. November 2021 konsultierte die Beschwerdeführerin auf telemedizinischem Weg eine Arztpraxis. Diese stellte ihr noch am selben Tag ein Arztzeugnis aus, welches ihr für die Zeitspanne von Montag, 8. November bis und mit Donnerstag, 11. November 2021 eine vollständige Arbeitsunfähigkeit bescheinigte. In der Folge leitete die Beschwerdeführerin dieses Zeugnis nicht – wie von ihr zu erwarten gewesen wäre – umgehend an die Beschwerdegegnerin weiter. Stattdessen teilte sie am Montag, 8. November 2021 der Beschwerdegegnerin mit, dass sie den gemeinsamen Besprechungstermin am Dienstag, 9. November 2021 nicht wahrnehmen könne. Gleichzeitig stellte sie ihr ein Arztzeugnis in Aussicht. Sie machte dabei keine näheren Angaben zum voraussichtlichen Zeitpunkt dieser Mitteilung, sondern hielt bloss fest, dass ein Arztzeugnis folgen werde. Die Beschwerdeführerin liess die Beschwerdegegnerin somit über die ihr bekannte ärztlich festgestellte Dauer ihrer Krankheitsabwesenheit im Ungewissen. Damit erschwerte sie die Planung ihres Einsatzes in der Bierbrauerei. Es sind keine Gründe ersichtlich, welche diese Unterlassung rechtfertigen würden.
6.2.2. Die Beschwerdeführerin teilte der Beschwerdegegnerin sodann am Donnerstag, 11. November 2021 mit, dass sie am Freitag, 12. November 2021 einen Arzttermin haben und dann weitersehen werde. In den anschliessenden vier Tagen (Donnerstag, 12. November bis und mit Montag, 15. November 2021) meldete sich die Beschwerdeführerin nicht bei der Beschwerdegegnerin. In der Folge kündigte die Beschwerdegegnerin der Beschwerdeführerin am Montag, 15. November 2021 kurz vor Mitternacht fristlos ihre Anstellung. Die Beschwerdeführerin vermochte nicht aufzuzeigen, dass sie krankheitsbedingt oder aufgrund eines anderen zwingenden Hindernisses ausser Stande gewesen wäre, die Beschwerdegegnerin nach ihrem zweiten Arztbesuch am Freitag, 12. November 2021 zu kontaktieren.
6.2.3. Die Beschwerdegegnerin verfügte über ein legitimes Interesse, möglich rasch zu erfahren, ob und gegebenenfalls ab wann sie die Beschwerdeführerin wieder in der Bierproduktion einsetzen konnte. Die Beschwerdeführerin hätte die Beschwerdegegnerin direkt nach dem zweiten Arzttermin von sich aus über ihre weitere Abwesenheit orientieren müssen. Sie versäumte dies und missachtete so ihre Pflicht zur raschen, kontinuierlichen sowie vollständigen Information. Die Beschwerdeführerin setzte durch ihr Verhalten einen wichtigen Kündigungsgrund im Sinne von Art. 337 Abs. 2 OR.
6.3. Entgegen der in der Beschwerde vertretenen Auffassung, musste die Beschwerdegegnerin der Beschwerdeführerin die fristlose Kündigung nicht (noch einmal) vorgängig androhen:
Mit E-Mail vom Montag, 8. November 2021 forderte der Verwaltungsratspräsident die Beschwerdeführerin auf, zu einer ordentlichen Beendigung des Arbeitsvertrages beizutragen und ihren Verpflichtungen gemäss Vertrag nachzukommen. Weiter ermahnte er sie mit E-Mail vom Dienstag, 9. November 2021, entweder eine korrekte Arbeitsleistung zu erbringen oder eine ärztliche Begründung für ihre Abwesenheit zu liefern. Gleichzeitig drohte er ihr ausdrücklich die Einstellung der Lohnzahlung und die fristlose Kündigung an. Die Beschwerdegegnerin hat diese Androhung nicht nur im Hinblick auf das fehlende erste Arztzeugnis, sondern für den ganzen Rest der ordentlichen Anstellungsdauer ausgesprochen.
Die Beschwerdegegnerin sandte der Beschwerdeführerin ihre beiden Ermahnungsschreiben bloss sieben bzw. sechs Tage vor der fristlosen Kündigung am Montag, 15. November 2021. Die Beschwerdeführerin wusste folglich, mit welchen einschneidenden arbeitsrechtlichen Konsequenzen sie bei einer erneuten Missachtung ihrer Informationspflicht rechnen musste.
6.4. Wie die Vorinstanz zutreffend festgehalten hat, waren unter diesen Umständen die Voraussetzungen für eine Fortführung des Arbeitsverhältnisses bis zum ordentlichen Kündigungstermin Ende Januar 2022 nicht mehr gegeben. Die fristlose Entlassung der Beschwerdeführerin vom Montag, 15. November 2021 ist deshalb nicht zu beanstanden.
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Autor: Nicolas Facincani
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